Literaturdebatte im Rosengarten Różanka
Foto: © Brygida Helbig, 2025
Ein Geburtstagsfest steht bevor, ein schönes Jubiläum – und große Feierlichkeiten. Vor 80 Jahren wurde Stettin am 5. Juli 1945 nach einigem dramatischen Hin- und Her von der polnischen Verwaltung übernommen und der erste Präsident der Stadt Piotr Zaremba konnte sein Amt antreten. Zuvor, am 26. April 1945, war die Stadt von sowjetischen Truppen besetzt worden. Auf der Potsdamer Konferenz wurde beschlossen, Stettin sozusagen als „Entschädigung“ für den Verlust der polnischen Ostgebiete an Polen anzugliedern. Eine für viele Deutsche tragische Konsequenz des von Hitler-Deutschland entfachten Zweiten Weltkrieges. Seitdem gehört meine Heimatstadt auf beiden Seiten der Oder zu Polen, auch wenn man sich lange Zeit nicht sicher war, ob es auch wirklich so bleibt. Im Jahr 1950 wurde die deutsch-polnische Grenze von der DDR anerkannt, 1970 auch von der Bundesrepublik, allerdings mit dem Vorbehalt einer Friedensregelung. Die endgültige Bestätigung der Grenze erfolgte erst mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag im Jahr 1990. Die Zugehörigkeit Stettins zu Polen war also lange Zeit nichts, dessen sich das Land sicher sein konnte. Es war vielleicht nicht ganz klar, ob es sich lohnt, in diese Stadt auch wirklich zu investieren, sie wirklich zu integrieren…
Die anfangs sicher als etwas exotisch empfundene Stadt am äußersten nordwestlichen Rand von Polen ist trotzdem aufgeblüht und kann heute stolz auf sich sein. Und nun wird gefeiert – seit einigen Tagen. Im Kasprowicz-Park, über den ich in meinem letzten Beitrag geschrieben habe, wurde zunächst das 30-jährige Bestehen der Stadtbibliothek gefeiert [1], und ich wollte es mir nicht entgehen lassen, diese Feier im wunderschönen Rosengarten Różanka zu erleben.

Foto: © Brygida Helbig, 2025
Angelegt wurde der Garten, wie ich lese, bereits 1928, in den 30ern wurde er ausgebaut, nach dem Krieg ist er irgendwie in Vergessenheit geraten. Seit 2007 steht er wieder in voller Pracht. Es ist ein Ort nicht nur zum Spazierengehen und Verweilen – angeboten werden hier auch Konzerte, Tanzabende, Workshops. Als ich dort ankomme, wird gerade auf der Bühne eine öffentliche Debatte über die Stettiner Literatur der letzten 80 Jahre geführt, und es wird dabei viel gescherzt und gelacht. Neben dem Moderator Krzysztof Lichtblau nimmt die uns schon bekannte Monika Szymanik (Buchhandlung „Kamienica w lesie“) daran teil. Zwei von den Preisträgern der Abstimmung über das beste Buch der letzten 80 Jahre sind auch zugegen – Przemysław Kowalewski und Marek Stelar. Beide sind Krimiautoren, genauso wie der Hauptpreisträger Leszek Herman.
Nun ja, man mag denken, was man will, viele lesen halt gerne Krimis, Sensationsromane, abenteuerliche Unterhaltungsliteratur, das ist eine Tatsache, mit der sich schwer diskutieren lässt. Ist nicht unbedingt mein Fall, aber das ist hier nicht das Thema.

Foto: © Rosita Pawlak
Interessant war die Diskussion allemal, zumal sie wieder einmal zeigte, dass Stettin im Bewusstsein seiner Bevölkerung nicht ganz zu Polen zu gehört… Es ging unter anderem um die Frage, warum hier keine großen, ganz Polen ansprechenden Literaturfestivals stattfinden, höchstens regionale. Eine der Antworten, die man darauf gefunden hat, war, dass Stettin, für alle, die aus „Polen“ kommen, einfach zu weit weg liegt (als ob Stettin nicht selbst Polen wäre!). Nun ja, dieses Gefühl, eine Randerscheinung zu sein, nicht wirklich dazuzugehören und vom Zentrum des Landes irgendwie links liegen gelassen zu werden, haben die Stettiner offenbar immer noch.
Und da regt sich Widerstand in mir, und regionaler Patriotismus, den ich in mir nicht vermutet habe. Als Teenagerin liebte ich Warschau, seit ich die Stadt das erste Mal gesehen habe. Vielleicht weil ich vorher schon durch Bücher und Lieder so viel darüber wusste, so viele Tränen über sein Schicksal vergossen habe… Ich war so stolz, dass wir Warschau so schön wiederaufgebaut haben. Diese Emotionen fehlten in meiner Beziehung zu Stettin.
Jetzt aber ist es anders. Jetzt denke ich, Stettin sollte aufhören, sich hauptsächlich an Warschau zu orientieren, denn Warschau hat seine eigenen Interessen. Viele Künstler und Künstlerinnen machen die Erfahrung, dass es schwer ist, in Polen wirklich sichtbar zu werden, wenn man in Warschau nicht fest verankert ist, nicht die richtigen Leute dort kennt. Na gut, dann verlagern wir vielleicht das Zentrum von Polen an den Rand?
Vielleicht sollte sich Stettin viel stärker an Berlin, an Pommern, an Skandinavien kulturell anbinden und Warschau seinerseits links liegen lassen? Ich glaube, daran arbeiten schon einige engagierte Zeitgenossen und Zeitgenossinnen [2], z.B. der Berliner Verein „Städtepartner Stettin e.V.“, dessen Mitglieder ich unbedingt treffen muss.
Das sind so meine Gedanken im Rosengarten. Es ist richtig heiß, wir schwitzen. Różanka erinnert mich an den Rosengarten im Bürgerpark in Berlin-Pankow und auch aus diesem Grund fühle mich hier doppelt wie zu Hause.
Und wie so oft bei solchen Veranstaltungen, treffe ich jemand, den ich lange, lange Zeit nicht gesehen habe, in diesem Fall 40 Jahre – meine Schulfreundin Rosita, noch aus der Grundschule Nr. 56, Jacek-Malczewski-Straße, gebaut auf einem großen Trümmerfeld neben unserer Neubausiedlung. Die Schule trug den Namen eines der berühmtesten polnischen Kapitäne der Hochsee – Konstanty Maciejewicz. Rosita läuft mir entgegen und fragt, ob ich sie wiedererkenne. Nein, leider nicht! Regelmäßige Klassentreffen sind in Polen weniger üblich als in Deutschland. Sie hat aber ein Foto unserer Schulklasse mit dabei – als Beweis. Die Freude ist groß und wir machen uns jetzt auch wieder ein Foto.
Interessant, wie viele meiner ehemaligen Schulfreundinnen und -freunde in Stettin geblieben sind, hier richtig Wurzeln geschlagen haben. Wie würde es sich anfühlen, an einem Ort zu leben, wo so viele Menschen sind, die einen seit der Kindheit kennen? Was verbindet uns überhaupt mit dieser Person, die wir damals waren, da unsere Identität im Laufe der Jahrzehnte vielleicht schon mehrere Purzelbäume geschlagen hat? Offenbar geben uns solche Begegnungen ein Gefühl der Kontinuität unseres Ichs, trotz alledem.
Aber genug philosophiert. Am Nachmittag gehe ich noch auf den Friedhof Cmentarz Centralny, – es ist der dritte Jahrestag des Todes von meinem Vater Roman Helbig, der Stettin als Oberbauleiter mitgebaut und als Pionier Bomben entschärft und Polen von den Minen befreit hat. (Er kam Anfang der 50er Jahre nach Stettin und lernte hier meine Mutter kennen.) Ich habe darüber bereits einiges geschrieben, u.a. in meinem Roman Niebko (Kleine Himmel). Doch darauf komme ich noch in einer anderen Blogfolge zurück.
Ich gehe also mit meiner Mutter auf den riesigen Zentralfriedhof, in dessen Nähe ich als Teenagerin bis zu meiner Ausreise nach Deutschland gelebt habe (am „zweiten Tor“, wie es hieß, nicht am Haupttor). Wie oft bin ich hier auf dem Fahrrad, entlang des Friedhofs, die Straße mit dem schönen Namen „Ku słońcu“ (Der Sonne entgegen) [3] hoch und runter gesaust, habe romantische Spaziergänge (allein und in Begleitung) auf dem Friedhof unternommen, dort meditiert, auch wenn ich das Wort noch nicht kannte. Und natürlich habe ich an bestimmten Stellen auch deutsche Grabsteine gesehen, der Friedhof war geheimnisvoll, er hatte einen zweiten Boden. Nun ruht dort meine Großmutter, und seit drei Jahren mein Vater, was heute noch weh tut. [4]

Foto: © Brygida Helbig, 2025
Zusammen mit meiner Mutter kaufe ich Blumen und Grableuchten bei den freundlichen Verkäuferinnen, die gleich am Eingang alles feilbieten, was man auf einem Friedhof in Polen braucht. (Man geht in Polen öfter auf den Friedhof, als es in Deutschland üblich ist.) Die Blumenfrauen kennen uns schon ganz gut. Eine, mit der wir länger plaudern, gibt uns diesmal sogar Pflegeempfehlungen für die Geranien. Sie lässt sich auch gern, auf Wunsch meiner Mutter (was mir ein wenig peinlich ist), fotografieren. Und erzählt noch, wo sie die nicht verkauften, übrig gebliebenen Blumen am Ende ihres Arbeitstages niederlegt.

Foto: © Brygida Helbig, 2025
Sie zeigt auf eine Gedenksäule für die Opfer der gewaltsamen Niederschlagung des Arbeiteraufstandes von Dezember 1970 in Stettin. Der 17. Dezember 1970 gehört fest zur Stettiner Identität. Ich kenne einen sympathischen und sehr bewanderten Historiker, der ein spannendes Buch dazu geschrieben hat – Michał Paziewski [5]. Aber auch selbst habe ich Erinnerungen daran. Ich war zwar erst sieben Jahre alt, werde aber diesen Dezember in Stettin nicht vergessen. Wir wurden früher aus der Schule nach Hause entlassen, ich habe Panzer auf den Straßen gesehen, Schüsse gehört, das Gebäude des Zentralkomitees der Partei, das von streikenden Arbeitern angezündet wurde, von weitem brennen sehen. [6] Gestreikt wurde nämlich nicht nur in Danzig (Gdańsk), sondern auch in Stettin.

Foto: © Brygida Helbig, 2025

Foto: © Brygida Helbig, 2025

Foto: © Brygida Helbig, 2025
Ein 16-jähriges Mädchen wurde zufällig von einer Kugel getroffen, ich glaube, in ihrer Wohnung. Die Kugel schoss wohl durch das Fenster. Ihr Grab befindet sich auch hier, am zweiten Tor, gleich links vom Eingang, unweit von der Gedenksäule. Meine Mutter weist mich auch immer wieder darauf hin, wenn wir vorbeigehen. Das Mädchen hieß Jadwiga Kowalczyk – eine der sechzehn Todesopfer dieses Aufstands.
Wir müssen gehen, lebe wohl, ruhe in Frieden, liebe Jadzia, wo auch immer Du bist.
Den Abend verbringe ich bei meinem Bruder Artur, der in der Nähe von Stettin lebt. Ein schöner, lauer Sommerabend im Garten, am Teich.
Und ich erfahre eine Neuigkeit über Stettin:
Ab Ende Juni gibt es eine neue Sommer-Fährverbindung zwischen Stettin und Świnoujście (Swinemünde). Diese Fähre wird als Wasser-Straßenbahn tramwaj wodny bezeichnet. Die Fahrt soll durch landschaftlich und historisch interessante Gebiete verlaufen und Reisenden die Gelegenheit bieten, die Naturkulisse sowie kulturelle Sehenswürdigkeiten vom Wasser aus zu erleben. Da hat sich die Stadt ein schönes Geschenk zum Geburtstag gegönnt! Nur ein paar Stunden Fahrt und schon sind wir am Strand – mit der Straßenbahn! Endlich!
Herrlich. Doch bevor ich mich am Strand erhole (falls ich jemals bei diesem Job dazu komme) stehen mir weitere Stettin-Feierlichkeiten bevor. Ich glaube langsam, lieber wäre ich eine Dorfschreiberin als eine Stadtschreiberin – es ist einfach zu viel los in dieser ehrgeizigen Stadt, wahrscheinlich sogar mehr als in Warschau.

Foto: © Brygida Helbig, 2025
[1] Es gab natürlich vorher schon andere Bibliotheken in der Stadt, z.B. die Pommersche Landesbibliothek (Książnica Pomorska), die Universitätsbibliothek, die Pädagogische Bibliothek u.a.
[2] Was für ein tolles deutsches Wort!
[3] Bis 1945 Pasewalker Chaussee.
[4] Auf diesem Friedhof gibt es auch (am Haupteingang) eine Gedenkwand für die nach Sibirien verschleppten und dort verstorbenen Polinnen und Polen. Meine Mutter hat dort eine Gedenktafel für ihren in Sibirien (in der Verbannung) verstorbenen Großvater Wincenty Downar anbringen lassen. Ihre Familie wurde 1940 von den Sowjets dorthin verschleppt.
[5] Michał Paziewski, Grudzień 1970 w Szczecinie, Szczecin 2013.
[6] Gestreikt haben Arbeiter der Werft und anderer großen Betriebe (Auslöser waren u.a. extrem hohe Lebensmittelpreise).




Wieder sehr warm und persönlich. Die beschriebenen Stettinerinnen kommen einem dabei sehr nahe.
Das freut mich sehr, lieben Dank!