Die Kirche in Golęcino
Foto: © Brygida Helbig
Es gibt Gegenden in Stettin, die ich früher nie besucht habe, die für uns, die wir im Zentrum gewohnt haben, irgendwie nicht existierten. Umso spannender war es für mich, vor ein paar Tagen einen nördlichen, am linken Oderufer und in der Nähe des Dammschen Sees gelegenen Stadtteil Golęcino-Gocław kennenzulernen, der in den letzten Jahren an Bedeutung und Attraktivität gewonnen hat. Seine postindustrielle Landschaft wird zum Ziel von Ausflügen, Erholung, Erkundungen. [1] Viele schwärmen davon. Und ich wollte es ebenfalls wissen.
Ich habe also vor Kurzem, unmittelbar vor den Bezirkswahlen in Stettin, an einer Veranstaltung teilgenommen, die von der wunderbaren Kandidatin eines weiteren nördlichen Stadtteils Stołczyn organisiert wurde – Paulina Romanowicz. An diesem Spaziergang teilgenommen hat auch Marta Sadowska, Kandidatin für Golęcino-Gocław. Zusammen mit der Reiseführerin Joanna Grycko haben sie uns diesen spannenden Stadtteil nähergebracht. Vor 1945 hieß der Bezirk Frauendorf.
Es ist Sonntag, das Wetter könnte nicht besser sein, die Sonne scheint, sommerliche Kleidung ist angesagt. Ich bin spät dran, nehme ausnahmsweise ein Taxi. Wir fahren am Żeromski-Park, dem Park meiner Kindheit (zurzeit werden dort alte Bäume gerettet), und an der Neubausiedlung in der Bazarowa-Straße vorbei, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Und weiter, weiter hoch nach Norden. Den Taxifahrer kenne ich mittlerweile gut, ich plaudere gern mit ihm. Heute hätte ich richtig Glück, dass ich ihn erwische, meint er. Denn er fährt gleich nach Świnoujście, um dort die letzten Sommertage zu genießen. Das Ziel unserer Fahrt ist die Kirche in Golęcino (Kościół Najświętszej Marii Panny Nieustającej Pomocy) – der Treffpunkt für unseren historischen Spaziergang. „Fahren Sie oft dorthin?“ – frage ich den Fahrer. Ja, schon, antwortet er, aber nicht zur Kirche. Wenn er nach Golęcino fährt, dann zum onkologischen Krankenhaus, das sich gleich neben der Kirche befindet… Deshalb ist ihm die Strecke vertraut. Was die Neuigkeiten über die Gegend betrifft, so hat er gehört, dass der heruntergekommene Bismarckturm nun von privater Hand gekauft wurde. Was dort entstehen wird, sei noch nicht klar. Über Jahrzehnte soll es dort etwas gruselig gewesen sein. Ich selbst war noch nie dort, habe den Turm aber mehrmals vom Schiff aus gesehen während meiner Hafenrundfahrten. [2]

Foto: © Brygida Helbig
Es wird ein wenig hektisch, die Strecke ist lang, aber ich komme an der Kirche, am oberen Ende der Strzałowskastraße noch rechtzeitig an. Ungefähr 20 Interessierte haben sich dort schon versammelt, meist ältere Menschen. Aber auch ein paar Jüngere sind dabei, vielleicht Bewohner des Bezirks? Es soll bei dem Spaziergang auch darum gehen, den Bewohnern die Möglichkeit zu geben, ihre Ideen zur Revitalisierung dieser Gegend vorzubringen. Ich reihe mich unauffällig in die Gruppe ein und Paulina Romanowicz zwinkert mir zu, wir kennen uns von der Identitätsdebatte in Szczecin-Dąbie.
Joanna Grycko ist bereits dabei, uns in die Geschichte des kleinen Fischerdorfes Golęcin einzuweihen. Gleich soll es in die Kirche gehen, der Pfarrer kommt gerade aus einer Seitentür heraus. Er wollte eigentlich schon gehen, aber unsere Stadtführerin bringt ihn dazu, das Kirchentor wieder aufzumachen und uns einen Blick in das wunderschöne, vor Kurzem restaurierte Innere des alten Gotteshauses zu gewähren. Höchstpersönlich erzählt er uns die Geschichte dieser architektonischen Perle.

Foto: © Brygida Helbig
Ein kleines Holzschiff hängt von der Kirchendecke herunter – ein Zeichen, dass die Kirche früher als Navigationshilfe genutzt wurde, da ihr Turm von weitem sichtbar war. Das fällt uns als Erstes auf. Wir erfahren, dass die erste Kirche hier als Holzbau im 13. Jahrhundert entstanden ist – auf einer Anhöhe, einem Ort früherer heidnischer Kulte. Sie wurde mehrfach umgebaut, ihre letzte Renovierung vor dem Zweiten Weltkrieg fand 1937 statt, ein Bericht darüber, unterschrieben u.a. vom Pastor Fritz Möller wurde 1939 in den Altar eingemauert.
Der Altar ist etwas ungewöhnlich. Vor einem rosa Hintergrund sehen wir eine Ikone, die eine der Schwestern, die hier gleich um die Ecke im Kloster leben, gemalt hat (wobei uns der Pfarrer erklärt, dass man Ikonen nicht zeichnet, sondern schreibt).Die Eltern dieser Nonne seien Kunstprofessoren gewesen. Die Schwestern leben auf der gegenüberliegenden Seite der Strzałowska-Straße, es sind Zisterzienserinnen (der Name Frauendorf hat mit ihnen zu tun). Sie leben, wie uns der Pfarrer mit großem Respekt erzählt, in Abgeschiedenheit, nur mit Beten und Schweigen beschäftigt. Wenn er sich mit einer der Schwestern verständigen möchte, schreibt er ihr einen Zettel.

Foto: © Brygida Helbig
Er zeigt uns noch die alte Orgel, das Taufbecken, und die Stationen des Kreuzwegs an den Kirchwänden, alles künstlerisch beeindruckend. Es scheint überhaupt ein sehr engagierter Pfarrer zu sein, macht unserer Reiseführerin Konkurrenz, und seine Führung wird stellenweise zur Predigt. Aber ich höre ihm gerne zu, da er beseelt, begeistert erzählt – ob von der Kirche oder von der Liebe Gottes. Vor allem aber mahnt er uns zur Ehrfurcht. Denn, wo man auch immer hier einen Spaten in die Erde tut, sagt er, findet man menschliche Überreste. Er weiß es wirklich, da er hier ganz allein den Rasen mäht, einen Küster (kościelny) habe er momentan nicht. Unsere Reiseführerin zeigt uns noch den alten Friedhof mit einem Denkmal für die Dorfbewohner, die während des Ersten Weltkrieges gefallen sind.

Foto: © Brygida Helbig
Gleich geht es aber auch auf die andere Straßenseite, wo sich das Kloster befindet. Wir bleiben bei merkwürdigen Anlagen stehen, die wie Kessel aussehen – es sollen Reste der Wasserversorgung der alten, im 19. Jahrhundert entstandenen Wasserheilklinik und später Irrenheilanstalt Bergquell sein.[3] Pani Joanna erzählt uns, dass die Anstalt zu Zeiten des preußisch-französischen Krieges zum Lazarett wurde. Ein paar Gruselgeschichten von Patientinnen gibt sie auch preis.[4] In einem erhaltenen Teil der ehemaligen Anstalt befindet sich heute das St. Johannes-Hospiz (hospicjum św. Jana).
Und schon laufen wir die Straße hinunter Richtung Oder, durchs Gebüsch, ich habe völlig ungeeignete Schuhe mitgenommen. Unterwegs sind überall Reste von Fundamenten, Mauern zu sehen, zum Teil vielleicht von Bergquell, zum Teil von alten Industrieanlagen. Unser Ziel ist die sogenannte Elisenanhöhe (Wzgórze Kupały), wobei die Anhöhe durchtrennt ist durch einen Graben für die Eisenbahnlinie Szczecin–Police–Trzebież. Unten, am Fuße des zweigeteilten Hügels befindet sich der Bahnhof Szczecin Golęcino. Wir bleiben eine Weile auf der stahl-hölzernen Fußgängerbrücke stehen, die beide Hügelseiten miteinander verbindet und genießen die Sicht… Mir wird etwas schwindlig über diesem Abgrund. Und was hat es denn mit der Elisenhöhe auf sich? Der Hügel wurde zu Ehren der Ehefrau des kaiserlichen Thronfolgers Friedrich Wilhelm IV. Elisabeth Ludovika von Wittelsbach Elisenhöhe genannt. Beide sollen im Jahr 1821 Stettin besucht haben. Und es ist eigentlich ein Weinberg. Angelegt wurde er von Zisterzienserinnen und bis ins 19. Jahrhundert genutzt.
Auf der anderen Seite der Brücke angekommen, werden wir von herunterfallenden Kastanien angegriffen, die uns auf die Köpfe fallen – autsch! Vorsicht! Ja, viele der alten prächtigen Bäume sind immerhin noch da… Aber, der Hammer ist: Auf dem Hügel, wo wir gerade stehen, befand sich vor 1945 ein tolles Restaurant. Es gab hier schöne Wanderwege und einen Aussichtspunkt auf das Tal der Unteren Oder und auf Stettin (heute von Bäumen und Sträuchern verdeckt) – ein beliebtes Ausflugziel der Stettiner, auch der Stettiner Landschaftsmaler.[5] Was ist denn damit passiert? Örtliche Industriebetriebe in Golęcin und Żelechowa wurden während des Zweiten Weltkrieges zerstört.[6] Die verlassene und ungenutzte Bebauung des Hügels wurde verwüstet und ist in Vergessenheit geraten… [7] Wird hier jemals wieder so etwas entstehen?
Scherzend gehen wir weiter, durchs Gebüsch, um einen Bunker anzuschauen, der im Hang des Hügels während des Zweiten Weltkrieges gebaut wurde.[8] Es gab vor einigen Jahren schon Pläne, ihn als Restaurant und Weinstube zu nutzen…[9] In heutigen Zeiten wird man wahrscheinlich davon absehen.
Pani Joanna zeigt uns gleich noch etwas Spannendes. Zwischen 1946 und 1947 befand sich in der heutigen Paprocistraße ein Sammelpunkt für die aus Stettin vertriebenen Deutschen. Die Vertriebenen bekamen einmal am Tag Suppe und zweimal am Tag Kaffee (wie die polnischen Umsiedler aus dem Osten andernorts auch). Woanders sei es schlimmer gewesen. Hier wurden Transporte für die Vertriebenen organisiert, die anschließend vom Bahnhof Szczecin-Golęcin nach Lübeck abfuhren.[10]

Foto: © Veiko Boden
Unser Ausflug ist noch nicht zu Ende, wir laufen wieder runter, auf die Ziemowita-Straße. Von hier aus sieht man in der Ferne Hafenanlagen, sogar Schiffe. Nicht weit von hier muss sich der legendäre, malerische Segelhafen Marina Gocław mit dem tollen Restaurant „Jachtowa“ befinden. Irgendwo hier befand sich auch eine bedeutende Yachtwerft (Stocznia im. Leonida Teligi), heute bauen hier einige private Firmen Yachten. Wir nähern uns dem großen Straßenbahndepot, das es schon seit 1898 gibt (in der heutigen Wiszesława-Straße) und das im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört wurde. Hier erfahre ich u.a., warum die Fahrkartenkontrolleure im Nachkriegspolen als „Kanary“ (Kanarienvögel) bezeichnet wurden. Sie haben früher, nach dem Zweiten Weltkrieg, gelbe Anzüge getragen.
Gegenüber dem Straßenbahndepot bleiben wir noch bei einem besonderen, rot-gelben Wandgemälde stehen. Es stellt die Stettiner Spezialität aus den 1960er Jahren Paprykarz szczeciński dar, die von den „Gryf“-Betrieben[11] produziert wurde. Zu unserem Erstaunen erfahren wir, dass die Inspiration für dieses Produkt aus Afrika stammt. Die Gryf-Mitarbeiter haben in einem der Häfen in Afrika ein Gericht namens Tiep bou dienn Sénégalais probiert –eine Mischung aus Fisch oder Fleisch und scharf gewürztem Reis. Das hat man dann etwas verpolnischt. Anfangs gehörte eine Gewürzgurke dazu, Tomatenmark (aus Ungarn) sowieso. Der Brotaufstrich aus der Dose wurde in 32 Länder exportiert und hat heute ein Denkmal auf der Insel Lastadie. Ich mag es eigentlich gar nicht so besonders. Frau Grycko verrät uns noch, was eigentlich einen guten Paprykarz ausmacht. Den Guten gibt es in Gläsern, nicht in Dosen, und mit Buchweizen, nicht mit Reis. Ganze Fischstückchen kann man da herausfischen.
Das sind auch die letzten Lektionen, die uns die Reiseführerin heute erteilt. Jetzt haben die Bewohner des Bezirks noch die Möglichkeit, ihre Wünsche in Bezug auf ihr Viertel zu äußern. Was ist die größte Stärke dieses Bezirks – lautet eine der Punkte der Umfrage, die wir ausfüllen sollen. Ich überlege nur kurz. Die spannende Geschichte, die Natur, die Menschen? Was ist das größte Problem? Vielleicht die Infrastruktur?
Nachgedacht, ausgefüllt, überreicht. Eingestiegen in die legendäre Straßenbahn Nr. 6 und los geht’s wieder ins Zentrum des Geschehens!
Hier endet mein Golęcino-Bericht. Inzwischen wurden Paulina Romanowicz und Marta Sadowska für die Bezirksämter gewählt – herzlichen Glückwunsch! Und mein Taxifahrer macht mittlerweile Urlaub in der Türkei.
[1] Wojciech Sobecki, Kiedyś przemysł, dziś wypoczynek, in: Magazyn Kuriera, 14.08.25, S. 12.
[2] Der Bismarckturm in Stettin-Gotzlow (Szczecin-Gocław) ist ein Denkmal für Otto von Bismarck aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Der Turm steht auf einem Weinberg, dem höchsten Hügel am Westufer der Oder, und ist vom Hauptbahnhof Stettin aus mit der Straßenbahn Nr. 6 erreichbar, die dort ihre Endstation hat.
[3] Quelle: www.historyczny.szczecin.pl
[4] Mehr Details unter: www.historyczny.szczecin.pl. Es ist eine sehr empfehlenswerte Internetseite von Paweł Ziątek.
[5] Quelle: www.archinea.pl
[6] Während des Zweiten Krieges wurde in den Gebäuden der ehemaligen Zichorienfabrik an der heutigen Światowidastraße Munition produziert. Der industrielle Charakter der Gegend führte dazu, dass die Siedlung 1944 Ziel massiver Luftangriffe wurde. Ein erheblicher Teil der industriellen Infrastruktur und viele Wohngebäude wurden zerstört. Bei den Angriffen kamen auch viele Zwangsarbeiter ums Leben. In Golęcin befanden sich fünf Zwangsarbeitslager.
[7] Mehr Informationen unter: www.archinea.pl
[8] Der fünfstöckige Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg hat zwei Meter breite Betonwände. Er war gasdicht, verfügte über ein eigenes Filter- und Belüftungssystem, Heizöfen, sanitäre Anlagen mit fließendem Wasser sowie Elektrizität. Auf dem Dach sind noch Halterungen für die Montage eines tarnenden Satteldaches erhalten. Seit 2012 wird das Objekt nicht mehr genutzt, zuvor befand sich darin ein Pfadfinder-Lagerraum und ein Schießstand der Miliz.
[9] Quelle: www.archinea.pl
[10] Quelle: www.opencaching.pl
[11] Przedsiębiorstwa Połowów Dalekomorskich i Usług Rybackich Gryf (Hochseefischereibetriebe und Fischereidienstleistungen Gryf), mehr Informationen unter: www.portalspozywczy.pl und www.visitszczecin.eu



