Blick von der Hakenterrasse (Wały Chrobrego) auf die Oder und die Segelschiffe
Foto: © Brygida Helbig
Das Meer war in Stettin zu Gast und wurde mit Pauken und Trompeten empfangen. Die Stadt hat ihr maritimes Gesicht so richtig zur Geltung kommen lassen. Das Segelfest in Stettin Żagle 2025 (Segel/Sails 2025) – für mich eins der schönsten Jahresfeste der Stadt. Ich kenne es auch von früher. Bis 2021 hieß es noch Dni Morza (Tage des Meeres) und fand immer im Juni statt, das erste Mal bereits 1947. Seit 2021 findet es immer im August statt, auf beiden Seiten der Oder. Ich habe es schon so oft verpasst, diesmal passiert mir das nicht. Zumal ich vom Stettiner Schiffsfahrtunternehmen Polska Żegluga Morska[1]eine Einladung zu einer Tour auf dem Segelschiff Abel Tasman (gebaut 1913) bekommen habe.[2] Doch wer war überhaupt Abel Tasman?Meine Recherche ergibt, dass es ein niederländischer Seefahrer war, der 1642 in Tasmanien einen Teil von Neuseeland entdeckte.
Das wunderschön erhaltene und natürlich mehrmals restaurierte Schiff ist heute an der Hafenpromenade keine Ausnahme, es stehen mehrere Oldtimer hier, die sonst auf hoher See zu sehen sind. Sie sind das Herzstück des Festes und ihre Namen machen Eindruck: Santa Barbara Anna, Barlovento II, Anny von Hamburg Baltic Beauty. Ihr majestätischer Anblick ist umwerfend und lädt die imposante Terrasse Wały Chrobrego mit zusätzlicher Energie auf.
Wie ich gleich erfahre, werden die Gastschiffe, wenn sie zum Fest im Hafen eintreffen, mit Nationalhymne und der Flagge des Landes, aus dem sie kommen, feierlich begrüßt. Gekommen sind über 60 Traditionsschiffe aus Deutschland, Schweden, Finnland, Norwegen u.a. Sie bieten Führungen und Fahrten an, überall stehen Schlangen, jeder will mit an Bord, viele sind von weit hergekommen. Natürlich gibt es auch ein kunterbuntes Rahmenprogramm – mit Musik, Workshops, Spielen und Rummel, Jahrmärkten, kulinarischen Köstlichkeiten. Abends locken die Inseln Łasztownia und Grodzka mit Konzerten bis tief in die Nacht. Am Sonntag soll das Fest durch eine Schiffsparade und natürlich mit einem Feuerwerk abgerundet werden.

Foto: © Brygida Helbig
Als ich am Samstag gegen Mittag zu den Wały Chrobrego[3] eile, ist die Stadt schon voll, Straßen sind abgesperrt, man findet keinen Parkplatz. Die Organisatoren haben gewarnt – nicht mit dem Auto kommen! Ich laufe durch die erhitzte Stadt, das Wetter stimmt, die Stimmung umso mehr. Höre unterwegs Ukrainisch und Deutsch, laufe an den monumentalen Gebäuden der Hochschule für Seefahrt und des Nationalmuseums (aus Sandsteinblöcken) vorbei, die breite Treppe zwischen den beeindruckenden Steinpavillons im Jugendstil runter. Früher, zu meiner Schulzeit, saß ich oft auf dieser großen Treppe in den langen Unterrichtspausen…
Diese repräsentative Uferpromenade wurde auf Initiative des ehemaligen Oberbürgermeisters Hermann Haken gebaut. Dazu gehört der Springbrunnen (mit der deutschen Aufschrift gebaut 1907) auf dem unteren Plateau. Um diesen herum sitzen Besucher und essen Eis oder trinken Bier. Ich schnappe mir die Karte für die Schifffahrt am Stand Visit Szczecin – und bin fast schon an Deck.
Die Besatzung des Schiffes ist holländisch. Der Kapitän Jeroen spricht Englisch mit uns, macht Scherze, fordert uns dazu auf, der sympathischen Crew beim Hochziehen der Segel zu helfen. Beim Steuern wechselt er sich ab mit einem jungen Mann. Was ich ahne und was sich nachher bestätigt – es ist sein Sohn Stijn, fast schon Marineoffizier. Beide steuern das Schiff scheinbar ohne jegliche Mühe, völlig entspannt, sozusagen mit einem Finger, nebenbei. Und sie sind die Ruhe selbst. Wie der Vater, so der Sohn. Angst ist wohl ein Fremdwort für sie, Hektik auch. Wahrscheinlich könnten sie so etwas sonst gar nicht machen. Aber auch die Tochter Lobke (Leichtmatrosin) ist dabei. Wer weiß, vielleicht wird sie auch Kapitän (wie die kürzlich verstorbene Danuta Walas-Kobylińska, die erste Kapitänin in Polen). Auch die Frau von Jeroen, Marian, Managerin des Familienunternehmens, ist mit an Bord. Es macht Spaß dieser Familie zuzusehen. Die Kinder hätten an Bord laufen gelernt, Marian selbst sei sogar an Bord geboren worden. Wie gut muss man sich als Familie vertragen, um so zu arbeiten, im wahrsten Sinne des Wortes in einem Boot zu sitzen… Und wie schön, dass eine Mitreisende den Mut hat, den Kapitän auf Englisch so auszufragen. 😊

Foto: © Brygida Helbig
Der polnische Kapitän, der mitfährt, und mit dem holländischen Kollegen Späße macht, erzählt auch etwas über unsere Strecke. Es ist nicht meine erste Schiffsfahrt durch den Hafen, aber ich genieße diese Fahrten immer wieder neu, schaue mir fasziniert die Werftkräne mit der Aufschrift Eberswalde und die großen Stahlkonstruktionen an, mit dem Schriftzug Stocznia Szczecińska – die Stettiner Werft.
Leider gibt es diese Werft (Stocznia Szczecińska im. Adolfa Warskiego) nicht mehr. (Sie war wohl der wichtigste Nachfolger – der deutschen Werft Vulcan, hier sind schon im 19. Jahrhundert transatlantische Schiffe gebaut worden.) Die Arbeiter dieser Werft hatten, ähnlich den Arbeitern der Danziger Werft (mit Lech Wałęsa), im Dezember 1970 und auch im August 1980 gegen den Kommunismus gekämpft und haben dann den Systemwechsel selbst nicht überlebt. Klingt paradox. Es ist hier nicht der Ort, über die politischen und wirtschaftlichen Gründe dafür zu diskutieren – es bleibt schmerzlich. Tausende von Menschen haben damals ihre Arbeitsplätze verloren.
Große Schiffe werden in Stettin also nicht mehr gebaut. Aber es gibt u.a. noch die Reparaturwerft Gryfia. Wir sehen große Docks, auf denen Schiffe gewartet werden. Auch kleinere Firmen haben sich in die Werft eingekauft. Allerdings beschäftigt dieses Areal jetzt nicht mehr Tausende, sondern nur noch 200 Arbeiter. Ein spannender, aber etwas wehmütiger Anblick – diese (post)industrielle Landschaft. Auf der anderen Oderseite ist noch ein großer Getreidespeicher zu sehen, der sogar einen weiblichen Namen trägt – Ewa. Und 17 oder noch mehr Stockwerke dazu.

Foto: © Brygida Helbig
Ansprechender ist allerdings der Anblick der paradiesischen Natur. Diese habe ich bei einer anderen Hafenfahrt bewundert. Das Highlight ist dabei der so genannte Heilige Fluss Rzeka święta, wo man wilde Vogelarten sehen kann (wenn man Glück hat – sogar einen Seeadler). Man fährt um kleine Inseln – Biotope mit vielen kleinen Tieren, auf Moorboden mit Laubäumen, der so genannte Auenwald, im Volksmund Stettiner Dschungel. Geheimnisvoll. Doch bald geht der Heilige Fluss (warum heißt er eigentlich so?) in den sagenumwobenen Dammschen See (Jezioro Dąbie) über.
Zum sagenumwobenen See gehören naturgemäß Sagen. Einige von ihnen hat mir vor Kurzem ein ehemaliger Schulfreund Piotr Owczarski vom Segelzentrum[4] verraten, den ich Jahrzehnte lang nicht gesehen habe. (Er soll mit dem Kajak die Ostsee von Schweden nach Swinemünde überquert haben.) Von ihm erfahre ich, dass es am Oderufer in Stettin zwischen der Brücke Most Długi und der Trasa Zamkowa[5](die ich nicht leiden kann) eine Seglerallee gibt, Aleja Żeglarzy, mit Seglerstatuen und einer mythischen Landkarte des Mare Dambiensis, mit Stationen wie Mare Saragossa, Parvo Mare, Vogelinsel, das Kap der Vier Skelette, das Kap des weißen Elefanten u.Ä. Dies soll Ausdruck der Sehnsucht der Stettiner Segler nach Abenteuern und der weiten Welt gewesen sein. Die Regierung erlaubte nämlich damals freies Segeln innerhalb der Odermündung lediglich auf dem Dammschen See. Und so wurde der Dammsche See für viele die letzte Enklave der Freiheit. Neben Statuen von bekannten polnischen Seglern steht in der Allee auch die Statue eines Katers. Was hat dieser hier zu suchen? Um es zu erfahren, braucht man nur die Uferpromenade entlangzulaufen und das Kinderbuch von Piotr Owczarski „Abenteuer des Katers Umbriaga“[6] zu lesen.

Foto: © Veiko Boden
Majestätisch wackelt unser Schiff auf dem Maare Dambiensis. Das Ziel ist der so genannte betonowiec, das Wrack des deutschenBetonschiffs Ulrich Finsterwalder, das während des Zweiten Weltkrieges in Ermangelung von Stahl mit Beton gebaut und dann durch einen Angriff britischer Kampfflugzeuge stark beschädigt wurde. Jetzt, auf Grund gesetzt, ist es eine Touristenattraktion, es soll hier manchmal sogar Konzerte geben. Hier wenden wir.
Am dritten Tag des Hafenfestes geht es für mich über die von Soldaten gebaute provisorische Pontonbrücke auf die Insel Lastadie. Dort warten schon vor dem Maritimen Wissenschaftszentrum Morskie Centrum Nauki[7], einem in Schiffsform gebauten Bildungszentrum, Monika und Konrad Szymanik mit ihrer fahrenden Buchhandlung. Ich soll mit meiner Tochter unser Buch signieren. Wer soll hier ein Buch kaufen? Überraschung! Das tun sehr viele. Sie kommen und erkundigen sich speziell nach Büchern von Autorinnen und Autoren, die aus Stettin stammen. Dazu gibt es sogar Musik! Denn hier auf der Lastadie (wie auch auf dem Solidarność-Platz) spielen Blaskapellen aus allen Ländern. Es wird feierlich.
Zurück auf der westlichen Seite besorgen wir uns einen vegetarischen Burger. Diese Spezialität war gar nicht so leicht zu finden! Wir klettern die Hakenterrasse hoch, gehen weiter die Małopolska Straße entlang Richtung Philharmonie, an der Henryka-Pobożnego-Straße vorbei, wo mein ehemaliges Lyzeum steht. An dieser Straßenecke zeige ich meiner Tochter das Restaurant Rybarex. Zu „meiner Zeit“ hieß es Café Posejdon. Hier haben wir Schülerinnen ab und zu ein wenig blau gemacht und Gedichte geschrieben, na ja, manchmal auch eine geraucht. Die Schönheit dieser Gegend habe ich damals noch gar nicht geschätzt, sie war wie naturgegeben.
[1] Internetseiten:www.polsteam.com, www.zstw.szczecin.pl
[2] Website: www.abel-tasman.de
[3] Warum heißt die ehemalige Hakenterrasse Wały Chrobrego (Wälle Boleslaus des Tapferen)? Boleslaw Chrobry von der Piastendynastie war der erste König von Polen (1025). Im Nachkriegspolen hat man deutsche Bezeichnungen durch solche ersetzt, die mit dem Piastengeschlecht in Verbindung standen, um das Narrativ durchzusetzen, dass es sich um „wiedergewonnene Gebiete“ handelt.
[4] Quelle: www.centrumzeglarskie.pl
[5] Die so genannte Schlossroute – die Zufahrtsader zur Stadt (ca. 2,5 km lang), welche die Brücke über der Oder und Parnica und die Überführung über der Łasztownia umfasst. Sie entstand an Stelle der im Krieg zerstörten Baumbrücke. Von hier aus hätte man einen tollen Panoramablick auf Stettin. Für mich zerstört die Route jedoch das Bild der Altstadt und ist, neben der „Verhüllung“ vom Kino Cosmos, eine der Bausünden der Stadt.
[6] Piotr Owczarski, Przygody kota Umbriagi, Szczecin 2018.
[7] Website: www.centrumnauki.eu

… wieder ein sehr erfrischend geschriebener Beitrag!
Viele Grüße
Liebe Antje, lieber Uwe, herzlichen Dank, ich freue mich, dass der Beitrag Euch anspricht. Das Segelfest in Stettin ist auch wirklich etwas Besonderes. Liebe Grüße aus Stettin!