Stadtbibliothek Szczecin-Dąbie. Von links: Agnieszka Kuchcińska-Kurcz, Weronika Fibich, Paulina Romanowicz, Krzysztof Lichtblau, Kinga Rabińska,
Foto: © Miejska Biblioteka Publiczna w Szczecinie
Es gibt im Polnischen einen schönen Ausdruck – mała ojczyzna. Es bedeutet so viel, wie „kleine Heimat“, im Gegensatz zur großen Heimat, zum Vaterland (ojczyzna). Es geht um den Ort, an dem wir (oder auch unsere Vorfahren) geboren und aufgewachsen sind. Es geht um den Raum und seine besonderen Qualitäten, um Menschen, die dort leben. In meiner Vorstellung ist die „kleine Heimat“ (das Mutterland?) weniger als das Vaterland mit Ideologien belastet. Es ist der Raum, in den die Geschichten jener, die dort vor uns waren, eingeschrieben sind.
Je älter ich werde, desto dringender wird mein Wunsch sich mit der kleinen Heimat zu beschäftigen. Deshalb durfte ich bei der berührenden Debatte zum Thema „Gedächtnis und Erinnerung“ (Pamięć i wspomnienia) in der Filiale Nr. 6 der Stadtbibliothek Szczecin-Dąbie[1] nicht fehlen. Das Ereignis stand im Zusammenhang mit dem 80. Jahrestag des Kriegsendes und wurde vom Verein Oswajanie miasta organisiert. Übrigens, was für ein schöner Vereinsname! Es heißt so viel wie die Stadt vertraut, aber auch zutraulich machen. Es ging um unseren Umgang mit der lokalen Geschichte. Eingeladen wurden Personen, die sie pflegen – beruflich oder im Rahmen einer gemeinnützigen Tätigkeit. Meine Freundin Iwona Waligórska hat mich mit dem Auto auf die Ostseite der Oder mitgenommen, an den Hochhäusern an der Wyszyński-Straße und an der St. Jakob- Kathedrale vorbei bis zur Oder runter, über die Brücke Most Długi[2].
Es dauert vielleicht 20 Minuten, und wir sind in Szczecin-Dąbie. Die Bibliothek liegt in einem schönen historischen Gebäude in der kleinen, fast idyllischen Dziennikarska-Gasse. Es ist ein „manieristisches Kleinod“ aus dem frühen 17. Jahrhundert, eingebettet in mittelalterliche Relikte. Einst Jagdschloss der Herzöge, später (nach dem Zerfall des pommerschen Herzogtums) Pfarrerswitwenhaus, heute – nach den Renovierungen in den 1970er Jahren – Bibliothek. Was für eine Geschichte! Man begrüßt sich herzlich, viele kennen sich, kommen regelmäßig zu Veranstaltungen in die gemütlichen Räumlichkeiten. Es gibt Kekse, Kaffee und Tee. Ich treffe Bekannte, u.a. Maciek Luszczyński-Lempka vom Verein Städtepartner Stettin e. V.

Foto: © Miejska Biblioteka Publiczna w Szczecinie
Die Debatte wird zeitgleich auf dem Portal wSzczecinie übertragen. Unter der gelassenen, humorvollen Moderation von Krzysztof Lichtblau diskutieren drei beeindruckende Frauen – Agnieszka Kuchcińska-Kurcz, Weronika Fibich und Paulina Romanowicz – über das Thema Gedächtnis und Erinnerung – besonders im Kontext jener Bewohner, die nach 1945 nach Stettin kamen. Gleich zu Anfang fällt ein wichtiges Statement. Wie die Initiatorin und Direktorin des Museums Centrum Dialogu Przełomy[3] Agnieszka Kuchcińska-Kurcz betont, sei das Gedächtnis das Fundament unseres Lebens. Ohne Erinnerung haben wir keine Kraft, die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern. Deshalb legt sie großen Wert auf Arbeit mit Kindern (interaktive Workshops, Ausflüge an historische Orte) und ermutigt sie dazu, Familiengeschichten zu erkunden. Ihre eigene Familiengeschichte hat viel mit tabuisierten Themen der Volksrepublik Polen (PRL) zu tun – mit dem Massaker an den polnischen Offizieren in Katyń, den Verschleppungen nach Kasachstan, den Umsiedlungen der Nachkriegszeit. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, diese Themen aufzuarbeiten. Das kommt erst jetzt so richtig in Fahrt, sagt sie, nachdem man in den 1990er Jahren zunächst damit begann, die ebenfalls bislang tabuisierte deutscheGeschichte der polnischen Westgebiete zu erkunden.

Foto: © Miejska Biblioteka Publiczna w Szczecinie
Frau Kuchcińska arbeitet auch mit älteren Menschen, die gern ins Museum kommen und „Landkarten des Gedächtnisses“ anfertigen. Dies sei eine freudige, spielerische Arbeit. Traumatische Erlebnisse kommen eher bei Debatten hoch.[4] „Es ist nicht ungefährlich, an Traumata zu rühren“, sagt sie. Sie kennt Beispiele, die zeigen, dass uns die Erinnerung manchmal umbringen kann. Übrigens erinnern manche Aktionen des Museums an therapeutische Arbeit mit kollektiven Traumata. Besonders berührt mich der Bericht von Frau Kuchcińska über die interaktive historische Rekonstruktion „Vor 65 Jahren kamen sie aus dem Osten“ auf dem Hauptbahnhof von Stettin an.[5] Sie liegt schon länger zurück. Am Bahnhof wurde die Ankunft der aus den östlichen Gebieten Polens umgesiedelten Menschen (von denen viele eine Verschleppung nach Sibirien hinter sich hatten) nachgespielt. Nur sollten die Ankömmlinge diesmal anders, herzlicher empfangen werden. Damals hat man eher von oben herab auf sie geschaut. Eingeladen wurden Betroffene, die in den 1940er und 1950er Jahren nach Stettin kamen. Die „Neuankömmlinge“ wurden symbolisch mit Brot und Salz vom Marschall der Woiwodschaft begrüßt. Man brach Brot ab und gab es weiter. Die polnische Bahn PKP machte eine laute Ansage, dass nun der Zug mit den Repatrianten angekommen sei. Ein historischer Waggon rollte an. Bald hielten ca. 300 Menschen ein Stück Brot in der Hand. Die ehemaligen Sibirien-Deportierten (Sybiracy) traten mit Schildern in den Händen hervor, auf denen die Namen der Verbannungsorte standen. Dieser Moment, gleich nach dem Öffnen der Waggontür, löste Tränen aus.[6] Das erste Mail in ihrem Leben fühlten sich diese Menschen wirklich willkommen geheißen…
Und wie bringe ich Menschen überhaupt dazu, ihre Erinnerung zu teilen? Dazu äußert sich die Künstlerin und Performerin, Kuratorin Weronika Fibich[7], die im Theaterzentrum „Kana“ wirkt. Sie kommt aus einem kleinen Ort nahe Stettin – Gryfino/Greifenhagen. Aufgewachsen ist sie im Plattenbau (den im Übrigen mein Vater mitgebaut hat), scheinbar ohne Geschichte, denn ihre Eltern erzählten nichts. Daher rührt ihr besonderes Interesse für die Erinnerungen Anderer.
Sie erzählt über das Projekt „Umzug“ (Przeprowadzka)[8], durchgeführt im Stadtteil Niebuszewo, dereinst überwiegend von der jüdischen Bevölkerung bewohnt wurde. Nach 1945 kreuzten sich hier Schicksale der Umsiedler verschiedener Nationalitäten. Im Rahmen des Projektes wurden zunächst Erinnerungsstücke zusammengetragen und Gespräche mit den Bewohnern durchgeführt (eine der Nachkriegsbewohnerinnen erzählte, wie sie mit einem alten deutschen Burda-Magazin nähen lernte.) Dann gab es Theateraktionen, bei denen konkrete Geschichten der Menschen szenisch dargestellt wurden. So wurden sie richtig lebendig.
Das Projekt wurde vom „Kana“-Theater im Rahmen der Aktionsreihe Auf der Suche nach der Identität des Ortes in Zusammenarbeit mit der Gesellschaftlich-Kulturellen Vereinigung der Juden[9] durchgeführt.Ein besonders wichtiger Aspekt war dabei das Schicksal der jüdischen Bevölkerung des Stadtteils nach 1968, als die Welle der Zwangsaussiedlungen aus der Volksrepublik Polen einsetzte. Frau Fibich sprach mit jüdischen Menschen, die diese Gegend damals verlassen mussten. Bei Gesprächen mit Zeitzeugen sei es wichtig, sagt sie, nichts zu erzwingen, sondern Impulse abzuwarten, die von Menschen und Räumen kommen.
Und nun die dritte Gesprächspartnerin Paulina Romanowicz, Historikerin und Archäologin an der Polnischen Wissenschaftsakademie (PAN) – engagierte Lokalchronistin, Autorin des Buches „Zeugen der kleinen Geschichte, Gespräche mit Senioren von Stołczyn/Stolzenhagen“[10] die sich sehr mit ihrem Stadtteil im Norden von Stettin identifiziert.
Sie leitet den Verein der Freunde Stołczyn (Stowarzyszenie Przyjaciół Stołczyna FORUM), betreibt den Blog stolczyn.com, in dem sie lokale Legenden, vergessene Geschichten und historische Bebauung „ausgräbt“ – bis hin zu bislang unveröffentlichten Erzählungen aus alten deutschen Einwohnerchroniken. Auf ihrem Blog findet sich sogar das Rezept für eine deutsche Kartoffelsuppe.[11] In der 2023 eröffneten Gedenkstätte des Vereins in der Straße Kolejowa 2 mit vielen ehemals deutschen Exponaten befindet sich u.a. ein deutsches Poesiealbum aus den Jahren 1910–1912 der Schülerin Elisabeth Jahnke[12] mit Einträgen von 57 Personen, u.a. der Lehrerin Marie Roeder.
Ich staune, wie stark sich Paulina Romanowicz für das ehemalige Arbeiterviertel und seine Aufwertung engagiert. Stołczyn war einst bekannt für seine florierenden Industriebetriebe. Zu den bedeutendsten gehörten das 1897 gegründete und bis 2008 funktionierende Hüttenwerk Huta Szczecin und die Papierfabrik Szczecin-Skolwin. Beide überstanden die Zeit der Privatisierung nicht. Produktionskürzungen führten zum Personalabbau, das Viertel war voller frustrierter Menschen, die nach dem Verlust ihrer Arbeit nicht so recht wussten, wie sie weitermachen sollten, sagt Frau Romanowicz. Die 1990er Jahre und der Systemwechsel sorgten dafür, dass Stołczyn grau und trostlos wirkte. Doch u.a. durch das Engagement des Vereins erblüht das Viertel langsam wieder.
Wie gut es tut, denke ich, Kraft aus der lokalen Identität zu schöpfen, gerade in den Zeiten, in denen uns die große Geschichte den Schlaf raubt.
Zurück fahren wir über die Siedlung Podjuchy (Podejuch) und die Greifen-Brücke (Most Gryfitów) sowie die Jungfernberg-Brücke (Most Dziewoklicz). Brücken kann es nie zu viele geben.
[2] Lange Brücke. Vor 1945 Hansabrücke (während des Zweiten Weltkriegs zerstört, 1959 wiederaufgebaut).
[3] www.przelomy.muzeum.szczecin.pl Das Centrum Dialogu Przełomy ist ein interaktives Museum, in dem u.a. persönliche Erinnerungsstücke lebendig werden.
[4] An der Hakenterrasse gibt es gerade eine Ausstellung des Museums zum Thema Kriegstraumata.
[5] Realisiert u.a. in Zusammenarbeit mit dem Marschallamt der Woiwodschaft Westpommern und der polnischen Bahn PKP.
[6] Quelle: www.przelomy.muzeum.szczecin.pl
[7] Mehr Informationen finden Sie hier: weronikafibich.plmbp.szczecin.pl
[9] Towarzystwo Społeczno-Kulturalne Żydów w Szczecinie
[10] Świadkowie małej historii. Rozmowy z seniorami Stołczyna, Szczecin 2019.
