Dreharbeiten mit dem Stadtpräsidenten in der Rathausbibliothek
Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Vera Schneider
Stettin in den Augen der Anderen…
Ich habe in meinem letzten Beitrag angefangen, über den Besuch des Filmteams aus Babelsberg zu berichten. Und ich setze es nun fort. Folge den Erinnerungen, den Gefühlen.
Die erste Erinnerung ist: Regen. Stettin glänzt in Wasser. Die alten Steinplatten glänzen auf den Bürgersteigen. Das Filmteam akzeptiert es, sieht das Schöne daran. Ich akzeptiere das nicht, da meine Frisur kaputt geht.

Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Vera Schneider
Es ist Montag. Frau Beata Śniady vom Präsidentenbüro und das Team des Skandinavischen Hauses nehmen die Gäste freundlich in Empfang. Aber es gibt ein wenig Aufregung und Hektik, gleich am Anfang. Ein wichtiges Kabel wurde vergessen. Das Team muss los, stürmt den polnischen Media Markt und ähnliche Shopping-Center, schlägt sich mit Englisch durch. Deutsch wird hier leider kaum gesprochen. Aber auch das würde nicht viel helfen – das gewünschte Kabel ist nicht zu kriegen.
Es muss improvisiert werden und das klappt dann auch – das Interview mit mir kann beginnen. Fragen stellt mir das jüngste Teammitglied – Merle. Sie kann ein paar Worte Polnisch, z.B. babcia (Oma), da ihre Großeltern aus Polen stammen. Sie ist so offen und neugierig. Neben ihr sitzt Johanna und bereitet schon Instagram-Stories vor, sie mag Social Media, ist sehr gut darin.
Ich beantworte die Fragen. Aber es dauert länger als gedacht. Weil die Straßenbahn, die in der Nähe das Rondell der Wiedergeburt [1] durchquert, in schrillen Tönen quietscht. Und weil die Sirenen der Rettungs- oder Polizeiwagen heulen. Es ist Nachmittagsverkehr in Stettin…
Wir sind alle erschöpft. Ich brauche Wasser. Jemand stellt mir das Wasser hin. Dann verschüttet jemand das Wasser. Jemand wischt den Boden ab und bringt mir neues Wasser. Ich schwitze. Jemand macht das Fenster auf. Wir schaffen das.
Irgendwann ist das Interview im Kasten. Kathrin Lantzsch, die das Team betreut, kann nun entspannt lachen, und sie lacht schön! Danio blieb die ganze Zeit sowieso ruhig und gefasst, er hat alles unter Kontrolle. Johann (nicht Johannes!) ist schnell und wachsam, Luis freundlich, aufmerksam und hilfsbereit. Ich mag das Team. Morgen stößt noch Vera Schneider vom Kulturforum zu uns. Ich freue mich.
Und morgen steht die Philharmonie auf dem Plan, von der ich schon berichtet habe, gebaut 2014, benannt nach dem polnischen Komponisten Mieczyslaw Karłowicz, entworfen von den spanisch-italienischen Architekten Fabrizio Barozzi und Alberto Veiga. Das futuristische, expressive Gebäude mit den spitzen, gläsernen Dächern – der Eispalast der Schneekönigin. Wo noch vor ein paar Jahren ein trister Parkplatz stand. Und nachts der Geist des deutschen Konzerthauses spukte.

Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Vera Schneider
Den Philharmoniebesuch habe ich bereits beschrieben, vor allem üppig bebildert. Hier eine kleine Ergänzung.
Es ist Dienstag. Die stellvertretende Direktorin Magdalena Wilento begrüßt uns im weißen, riesigen Foyer und führt über eine phantasievoll gewendelte Treppe nach oben. Sie erklärt die Architektur des Hauses. An ihre Worte kann ich mich nicht mehr genau erinnern, habe aber eine schöne Beschreibung im Internet gefunden: „Im Kontext der Stadt fremd ist das einheitliche Fassaden- und Dachmaterial der Philharmonie, eine zweischalige Stahl-Glas-Konstruktion, deren transluzente Glastafeln tagsüber weiß und fast undurchsichtig sind. In der Dämmerung und Dunkelheit leuchtet das Volumen von innen heraus oder kann durch eine integrierte LED-Beleuchtung vielfarbig inszeniert werden.“ [2] Das Dach leuchtet in der Dunkelheit? Da keimt eine Idee im Filmteam auf…!
Im weißen Palast gibt es allerdings auch einen schwarzen Raum (Kammermusiksaal für 200 Zuhörer), und einen goldenen Raum – den großen Konzertsaal für 1.000 Zuhörer. Ebenfalls auf dem Internetportal baunetzwissen.de lese ich dazu: „Von verblüffend formaler und materieller Üppigkeit ist der große Saal. Seine Decke und die Wände sind mit dreiecksförmigen, unregelmäßig aufgebrochenen Vertäfelungen versehen, die mit Blattgold überzogen sind.“ [3] Leise Musik ist zu hören, es wird fleißig geübt, während wir der Direktorin lauschen. Die Sprache hat es uns längst verschlagen.
Aus einem der Fenster im Flur sehe ich die orthodoxe Kirche von Stettin. Es ist der Sitz der Kirchengemeinde des Hl. Nikolaus, die 1946 gegründet worden ist.
Was in der Philharmonie alles angeboten wird, darüber habe schon berichtet – von Ausstellungen und Workshops… Und gerade habe ich von einem meiner fleißigen Blogleser erfahren, dass die Stettiner Philharmoniker neulich im Yachtclub auf der östlichen Seite der Oder ein Konzert veranstaltet haben.
Die östliche Seite der Oder gewinnt immer mehr an Attraktivität. Es stellt sich heraus, dass der dortige Rummel es dem jungen Team angetan hat und dass sie dort viel Zeit verbringen werden – mit dem Riesenrad und anderen spektakulären Vergnügungsmonstern, die von der Hakenterasse aus gut zu sehen sind.

Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Vera Schneider
Aber jetzt eilt das Team zur Buchhandlung „Mietshaus im Wald“ – ich habe ein Treffen mit Monika und Konrad organisiert. „Ist das Mietshaus wirklich im Wald?“ – fragt Johann. Nein, es ist mitten in der Stadt. Da sind alle beruhigt und machen sich auf den Weg. Sie werden schwer beeindruckt sein.
Es ist Mittwoch. Alle Mann an Bord! Um 10 Uhr steht der Besuch beim Stadtpräsidenten Piotr Krzystek im Rathaus an. Da sollten wir uns auf keinen Fall verspäten. Eigentlich sollte alles sowieso anders sein. Ursprünglich war ein Spaziergang mit dem Präsidenten geplant. Zwei Touren standen uns zur Wahl:
Die erste vom Stadtzentrum ins Grüne: Start an der Johannes-Paul-II.-Allee mit prachtvollen Bürgerhäusern. Weiter zu den Jasne Błonia (den Hellen Auen) und in den Kasprowicz-Park mit dem idyllischen Teich und dem Sommertheater.
Die zweite am Wasser: Entlang der Boulevards am Oderufer mit Restaurants, Cafés und dem Blick auf die abends farbig beleuchteten historischen Werftkräne „Dźwigozaury“ (Kranosaurier) [4], Panorama von der Hakenterrasse, Besuch des Yachthafens und Ausklang auf der Insel Łasztownia, wo maritimes Flair, industrielles Erbe und moderne Stadtkultur aufeinandertreffen.

Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Vera Schneider
Soweit der Plan. Aber es schüttet, und aus dem Spaziergang wird nichts. Wir treffen uns mit dem Stadtpräsidenten im historischen Bibliotheksraum des Rathauses, mit einer Innentreppe, mit vollständig mit Holz verkleideten Wänden und vielen maritimen Erinnerungsstücken. Das Team hat es mit der Straßenbahn knapp geschafft. Es kommt jedenfalls ein wenig Hektik auf. Ein wenig Improvisation. Wer sollte eigentlich die Fragen an den Stadtpräsidenten stellen? Ich, Merle, Kathrin? Gott sei Dank haben alle Humor, und Frau Śniady hat Nachsicht. Wir erfahren, wie wichtig die Ökologie für den Präsidenten ist, und die bewohnerfreundliche Gestaltung der Stadt. Seine Lieblingsorte sind das Wasser (er segelt gern) und der Park.

Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Vera Schneider

Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Vera Schneider
Nun begibt sich das Team zum Museum für Technik und Kommunikation, ich selbst besuche es ein anderes Mal. Am Abend gehen wir essen, ich soll etwas vorschlagen. Ich tippe auf die Tkacka-Straße unweit der Philharmonie und des Schlosses. Das Tkacka 7 sieht modern aus. Oder das Radecki? Es sieht gemütlich und zünftig aus – mit italienischer und polnischer Küche. Das Team entscheidet sich fürs Radecki – etwa wegen der Pizza?
Das Restaurant ist voll. Wir bekommen einen Tisch im Innenhof, wo es im Regen nicht ganz so gemütlich ist. Die Jugend verspätet sich. Ich bestelle Wein, meine Mitstreiterin Glühwein – darf man ihn im Sommer trinken? Ja, man darf. Es ist auch ganz schön kalt. Später dürfen wir Gott sei Dank auch rein. Das Essen ist gut, ich erfahre viel über das Team, wer wo lernt, wer wo studiert, wer wann in Polen war. Wir duzen uns, wir könnten ewig so weitermachen, aber der Abschied sitzt uns schon im Nacken.
Und heute Abend haben wir noch etwas vor. Zwar schifft es, wie gehabt, in Strömen, aber wir wollen noch die Eingangsszene des Stadtschreiberfilms drehen, wie sie sich Danio ausgedacht hat. Nun gut, dann mal los, zwei Leute kann ich mit dem Auto mitnehmen, der Rest muss rennen, es ist nicht weit bis zum Solidarność-Platz, auf dem sich die Philharmonie und das Museum Centrum Dialogu Przelomy (Dialogzentrum Umbrüche) befindet. Das 2016 eröffnete Museum ist übrigens auch ein architektonisches Meisterstück, muss man sagen. Es ist ein unterirdisches Bauwerk, dessen weites Dach (in Form einer seichten Woge, die sich diagonal zur Platzmitte senkt, und in der nordwestlichen Gebäudeecke gipfelt) als öffentlicher Platz begehbar (und abends durchaus mit Skateboards befahrbar!) ist. [5] Und auch wir werden es begehen.

Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Vera Schneider
Wir klettern auf die nordwestliche Gebäudeecke. Stichwort: transluzente Glastafeln der Philharmonie als Hintergrund der Aufnahmen. Das war die Idee, die heute Vormittag aufkeimte.
Leider lassen uns die Glastafeln im Stich. Trotz der Dämmerung weigern sie sich heute zu leuchten. Wind und Wetter machen das Filmen und das Posieren zusätzlich schwer. Es wird spät. Ich werde ungeduldig. Ich habe meine Jacke vergessen. Luis will mir seine Jacke leihen. Das ist wirklich lieb, aber mir ist nicht kalt, ich wollte nur besser aussehen. Ich soll in die Ferne schauen, Abendstimmung genießen. Das würde zu meinem Blogeintrag passen, in dem ich schreibe: „Schlaf mein Stettin…“ – sagt Danio. Wir hantieren mit Regenschirmen im Wind. Das Team passt auf, dass keiner von der Gebäudekante stürzt, pass bloß auf, Johanna! Wir lachen viel. Meine Frisur ist im Eimer, die Szene im Kasten.
Merle bringt mich zum Auto.
Es ist Donnerstag. Wir treffen uns im Kino »Pionier«. Der stellvertretende Stadtpräsident Marcin Biskupski ist da. Und die Kinoleiterin Katarzyna Błażewicz, die perfekt Englisch spricht. Herr Biskupski erzählt stolz, wie es der Stadt gelungen ist, das Kino von privater Hand zu erwerben und ein internationales Zertifikat für das älteste, beinahe ununterbrochen seit 1907 funktionierende Lichtspielhaus in Europa zu bekommen. Hier hat er seine ersten Dates gehabt, schmunzelt er.

Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Vera Schneider
Dann wird vor dem Kino auf der Wojska-Polskiego-Allee weiter gefilmt. Wir haben nicht viel Zeit, das Team muss heute nach Hause. Johann filmt mit der Drohne, er ist ja der Drohnenkönig, was für mich so etwas wie Drachenreiter bedeutet. Plötzlich zeigt er mir eine unerfreuliche polnische Nachricht auf seinem Handy, ach Du meine Güte, hier darf gar nicht mit dem Ding gefilmt werden. Ich selbst versuche auch, wo es nur geht, der Drohne auszuweichen, die mich immer mal wieder im Visier hat.
Es ist so weit. Wir haben es geschafft!

Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Vera Schneider
Abschiedsfoto in der Nähe des Platzes der Einigkeit (Plac Zgody). So schnell kannst Du gar nicht gucken, wie wir uns herzlich umarmen und „Tschüß“ sagen. Wir wollen nicht sentimental werden. Alle Teammitglieder wollen wieder nach Stettin, z.B. zu einem Konzertbesuch. Sie wundern sich, dass sie es bisher noch nicht gemacht haben – allen voran Kathrin. Ist es der mentale Eiserne Vorhang, der uns noch trennt? Oder etwa die zurzeit hinkende Bahnverbindung…? Diese hat schon wahrlich bessere Zeiten erlebt! [6] Und bei der Filmpremiere im November in Potsdam, wollen wir es, so mein letztes Wort, richtig krachen lassen, mit Blitz und Donner. Tak!
[1] Rondo Odrodzenia, vor 1945 Friedrich-Karl-Platz.
[2] aus: »Mieczyslaw-Karłowicz-Philharmonie in Stettin. Dreiecksförmig aufgebrochene Täfelungen steuern die Nachhallzeiten« – www.baunetzwissen.de
[3] ebenda
[4] Es ist ein Wortspiel. Die Kräne erinnern in ihrer Form an Dinosaurier.
[5] aus: »Centrum Dialogu Przełomy in Stettin. Geschwungene Dachfläche als städtischer Platz« – www.baunetzwissen.de
[6] „Die 1843 eröffnete Berlin-Stettiner-Eisenbahnlinie machte die Hafenstadt an der Odermündung für Berlin zum schnellsten Zugang zur Ostsee. 170 Jahre später bleibt die Bahn hinter der damals erreichten Geschwindigkeit deutlich zurück.“ aus: www.baunetzwissen.de
