Der Quistorp-Gedenkstein im Kasprowicz-Park

Gedenkstein für Johannes Quistorp. Foto: © Brygida Helbig, 2025

Stettin hatte einen Wohltäter, dem es unter anderem eine wunderschöne Parkanlage verdankt. Doch bevor ich den Wohltäter vorstelle, ein paar Worte zum Park. Jeden Frühling platzt mein Facebook von Fotos mit Krokussen aus Stettin. Massen von Menschen fotografieren bunte Krokuswiesen im guten alten Jan-Kasprowicz-Park, um den es hier geht. Mit diesem Schatz der Stettiner verbinden mich nicht so viele persönliche Erinnerungen, da ich in der Kindheit an einem anderen Park wohnte (dem Stefan-Żeromski-Park), und später dann am Zentralfriedhof, den ich als Park betrachtete. Und dennoch kann ich mich erinnern, dass ich hier im Kasprowicz-Park in einem kalten Winter von der Anhöhe, wo sich das Amphitheater befindet, mit einigen Schulfreudinnen und -freunden mit dem Schlitten (oder auch ohne) runtergerauscht bin, bis zum vereisten kleinen Stausee Rusałka (Meeresjungfrau) [1], und dass wir dabei Riesenspaß hatten.

Die Aue Jasne Błonia, heute Johannes-Paul-II-Platz, im Kasprowicz-Park. Im Hintergrund das Rathaus. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Die Aue Jasne Błonia, heute Johannes-Paul-II-Platz, im Kasprowicz-Park. Im Hintergrund das Rathaus.
Foto: © Brygida Helbig, 2025
Modernistische Metall-Installation Ogniste Ptaki (Feuervögel) von Władysław Hasior im Kasprowicz-Park. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Modernistische Metallinstallation Ogniste Ptaki (Feuervögel) von Władysław Hasior im Kasprowicz-Park.
Foto: © Brygida Helbig, 2025

Als Papst Johannes Paul der II., dessen Wahl ich noch in Polen erlebte, nach Stettin kam und in dieser Parkanlage am 11. Juni 1987 auf der Aue Jasne Błonia [2] eine Heilige Messe feierte und zu der Menge sprach, auf die Rolle Stettins in der Widerstandsbewegung 1970 und 1980 anspielte, war ich jedoch schon längst über alle Berge, in der Bundesrepublik, wo Milch und Honig flossen, wie man sich erzählte.

Dafür habe ich noch als Schülerin die Enthüllung eines imposanten Denkmals auf dieser Aue miterlebt, des Pomnik Czynu Polaków (Denkmal der Errungenschaften der Polen). Es wurde am 3.9.1979 zum 40. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen enthüllt. Das Denkmal mit den drei riesigen Adlern, die sich zum Himmel emporschwingen und Kraft und Mut ausstrahlen, ehrt drei Generationen von Polinnen und Polen: die polnische Bevölkerung Stettins (die Stettiner „Polonia“) aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, die „Pioniere“ des Nachkriegsstettins und die Generation, die die Stadt weiter aufbaute. Und auch wenn es ein Denkmal aus der sozialistischen Zeit ist und – wie übrigens fast alle Denkmäler – politisch gefärbt, bin ich immer gerührt, wenn ich darunter stehe und an die Leistung der Generation meiner Großeltern und Eltern denke, die hierher kamen, um sich neu zu erfinden, nachdem sie alles verloren hatten. Ich, die dritte Generation, hab mich aus dem Staub gemacht, auch wenn es nicht wirklich meine Absicht war, doch das ist eine andere Geschichte.

Das Denkmal der Errungenschaften der Polen (Pomnik Czynu Polaków) und die Aue Jasne Błonia. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Das Denkmal der Errungenschaften der Polen (Pomnik Czynu Polaków) und die Aue Jasne Błonia.
Foto: © Brygida Helbig, 2025
Denkmal Pomnik Czynu Polaków. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Denkmal Pomnik Czynu Polaków
Foto: © Brygida Helbig, 2025

Im Jahr 2008 kam noch auf der anderen Seite der Aue Jasne Błonia (die nun den Namen des Papstes trägt) das Denkmal von Johannes Paul II. hinzu, das näher am imposanten Gebäude der Stettiner Stadtverwaltung bzw. des Rathauses (Urząd Miasta) steht [3] Aber etwas fehlte. Etwas wurde noch nicht öffentlich erinnert. Es fehlte ein Denkmal des Mannes, dem der heutige Kasprowicz-Park seine Existenz verdankt – des Stettiner Fabrikanten Johannes Heinrich Quistorp (geb. 1822 in Greifswald, gest. 1899 in Stettin). Ja, und genau dies änderte sich vor ein paar Tagen. Am 27. Juni um 12 Uhr wurde im Park, der allerdings vor dem Krieg Quistorp-Park hieß, ein Gedenkstein enthüllt – eine von der Stadt unterstützte Initiative des Vereins Unsere Ausflüge (Nasze Wycieczki), der seit Jahren einiges tut, um das Werk von Quistorp im kollektiven Gedächtnis der Stettiner zu verankern. Gedenksteine sind heute wohl populärer als herkömmliche Denkmäler. Vor Kurzem wurde z. B. in Berlin ein Gedenkstein für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges enthüllt, was positiv wie negativ kommentiert wurde. Hier, im Park, macht sich der Stein auf jeden Fall richtig gut. Doch zur Enthüllung habe ich es nicht geschafft – wenn man einen Pechtag hat, ist es halt so.

Gedenkstein für Johannes Quistorp im Kasprowicz-Park. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Gedenkstein für Johannes Quistorp im Kasprowicz-Park
Foto: © Brygida Helbig, 2025
Das Rathaus, der Sitz des Stadtpräsidenten und der Stadtverwaltung. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Das Rathaus, der Sitz des Stadtpräsidenten und der Stadtverwaltung
Foto: © Brygida Helbig, 2025

Der Tag war windig, es hat furchtbar geregnet. Ich bin zwar rechtzeitig im Park gewesen, musste aber erstmal lange einen Parkplatz und dann einen sicheren Unterschlupf suchen, zu allem Überfluss war mein Regenschirm kaputt, mein Telefon auch. Was ich nicht bedacht hatte – es war der letzte Schultag in Polen! Und was ich auch nicht bedacht hatte – viele Eltern und Großeltern feierten mit ihren festlich angezogenen Kindern hier die Zeugnisausgabe! Diese fröhliche Gesellschaft hat sich fürs Eisessen dasselbe Café aussucht, das mir als Unterschlupf dienen sollte. Es war also richtig voll. Für eine rasende Reporterin kann das aber gar nicht falsch sein. Zusammen mit glücklichen Familien (die unglücklichen sind vielleicht gar nicht erst gekommen) saß ich also eine Weile in einem schönen Café mit Buchhandlung und hörte den Gesprächen zu. Ich hatte allerdings auch einen interessanten Blick aus dem Fenster, der ein gutes Gefühl vermittelte. Zu sehen war eine Menge von Polizisten und Polizistinnen in bester Stimmung, und zum Teil zu Pferd, zu bewundern. An diesem Tag wurde hier nämlich auch ein Polizei-Volksfest unter dem Motto „Sicher durch den Sommer“ gefeiert, mit vielen Attraktionen und Lernangeboten (z. B. wie man erste Hilfe leistet) für Klein und Groß.

Polizeifest auf der Wiese Jasne Błonia. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Polizeifest auf der Wiese Jasne Błonia
Foto: © Brygida Helbig, 2025

Das nette Café heißt Między wierszami (Zwischen den Zeilen bzw. Zwischen den Gedichten) – ein richtig schöner, mehrdeutiger Name. Hier zwischen Schülerinnen, Schülern, Luftballons, Büchern, Café Crème, Eis mit Schlagsahne habe ich mich beruhigt.

Das Café »Między wierszami« (Zwischen den Zeilen / Zwischen den Gedichten). Foto: © Brygida Helbig, 2025
Das Café »Między wierszami« (Zwischen den Zeilen / Zwischen den Gedichten)
Foto: © Brygida Helbig, 2025

Nun muss ich raus, weiterziehen, der Regen lässt nach. An einer Außenwand des Cafés sehe ich noch ein schönes Zitat von Cyprian Kamil Norwid, einem Dichter der polnischen Spätromantik, in freier Übersetzung:

„Denn das Licht ist nicht dazu da, unter dem Scheffel zu stehen / das Salz der Erde ist nicht für Küchengewürze bestimmt / Denn Schönheit ist dazu da zu inspirieren, zu motivieren … / zur Arbeit, und die Arbeit, um immer wieder aufzustehen.“ [4]

Ja, Johannes Quistorp war bestimmt ein inspirierter, motivierter Mann. Und er sorgte, wie man in unterschiedlichen Quellen lesen kann, zu Zeiten des wilden Kapitalismus für das Wohl und die sozialen Belange seiner Arbeiter. Das macht ihn besonders im Context seiner Zeit. Er soll ein Positivist gewesen sein, und Arbeit war für die Positivisten [5] alles – vor allem organische Arbeit, die jedes Organ des gesellschaftlichen Organismus mit einbezieht, also auch z. B. die Arbeiter und Angestellten.

Als ich am Gedenkstein ankomme, ist die Veranstaltung vorbei. Ich mag ihn – den 17,5 Tonnen schweren Stein in Herzform mit der schlichten Aufschrift Quistorp. Er ist richtig schön gelegen, auf dem Weg vom Adlerdenkmal Richtung Amphitheater (Teatr Letni) auf einer Anhöhe, mitten im Grünen, mit einem schönen Blick von oben auf den Norden von Stettin (Niebuszewo). Neben dem Stein wurde eine mehrsprachige Informationstafel zur Parkgeschichte und zu den Führungen auf den Spuren der Familie Quistorp angebracht. Ich denke, Johannes kann zufrieden sein.

Der Mann war einer der reichsten Bürger in der Geschichte Stettins, ein preußischer Großunternehmer und Fabrikant, Besitzer einer Zementfabrik in Lebbin (Lubin) auf der Insel Wollin (sie gehörte zu den ersten in Deutschland, die Portlandzement herstellten) und einer weiteren auf dem heutigen Werftgelände in Stettin einer Ziegelei und anderer Fabriken. So ließ er in Lebbin 150 Werkswohnungen, ein Witwenhaus, eine Bücherei, einen Vereinssaal und ein „Arbeiter-Bildungsinstitut“ bauen, gründete eine Schule und ein Waisenhaus. Für seine Betriebsangehörigen richtete er eine Kranken-, Witwen-, Sterbe- und Unterstützungskasse ein. In den Jahren 1862 bis 1864 verfasste er sogar ein Buch darüber – Soziale Bestrebungen des Fabrikanten Joh. Quistorp zu Stettin in Preußen für das Wohl seiner Arbeiter. Ich bin inspiriert!

Aber damit noch nicht genug. Mitte des 19. Jahrhunderts gründete er an der heutigen Wawrzyniaka-Straße ein Kranken- und Waisenhaus, bekannt als Diakonissenhaus Bethanien. Heute sind dort andere Einrichtungen untergebracht, aber die Familie Quistorp ist auch da. Einige Familienmitglieder (Johannes, seine Frau Wilhelmina, geb. Theune, sein Sohn Martin) ruhen auf dem dazugehörigen Friedhof. Die Ruhestätte wurde vor einigen Jahren lokalisiert und in Ordnung gebracht.

Nach der „Entfestung“ Stettins baute Quistorp auch das schöne Villenviertel Westend – das heutige Łękno. Und – wir kommen dem Kernpunkt näher – im Norden Stettins ließ er eine etwa 300 Morgen große Obstplantage mit Park anlegen. Das dortige Sumpfgebiet wurde zum Westendsee umgestaltet (Rusałka). Sein Sohn Martin schenkte der Stadt 1908 den eingerichteten Park. Friedrich Ackermann, damals Bürgermeister von Stettin, versprach 1908, dass ein Gedenkstein an den Namen Quistorp erinnern werde. Das Versprechen wurde erst vor einigen Tagen kurz vor dem 80-jährigen Jubiläum des polnischen Stettins, das am 4. Juli 2025 gefeiert wird, eingelöst.

Michał Dębowski, der städtische Denkmalschützer und Restaurator, sprach bei der Enthüllung, wie ich in der Stettiner „Gazeta Wyborcza“ lese, stolz davon, dass die Familie Quistorp auf die Landkarte von Stettin zurückkehrt und drückte tiefe Dankbarkeit denen gegenüber aus, die dieser Stadt zum Aufblühen verholfen haben. Über Johannes sagte er u. a.: „Sein Bestreben, seinen Reichtum und seinen Einfluss (…) zum Wohle der gesamten Gemeinschaft zu nutzen, sollte uns allen eine Inspiration und Ermutigung sein …“. Bei der Enthüllung wurde auch ein Dankesbrief einer Ur-Ur-Urenkelin von Quistorp, Nicola Maria Stegmann, vorgelesen …

Das wusste ich früher alles nicht, nichts wusste ich von Quistorp, von Jan Kaprowicz dafür natürlich einiges – ein Dichter des Jungen Polen, der aus dem Bauernmilieu stammte und u. a. erhebende, mystische Hymnen schrieb, aber auch sozial engagierte Lyrik. Im sozialistischen Polen wollte man mit diesem neuen Parknamen vielleicht einen Kontrapunkt zum Namen eines Fabrikanten, eines „Kapitalisten“ setzen. In alter Internetpresse von 2016 lese ich allerdings, dass es Bestrebungen gegeben haben soll, den Park wieder in Quistorp-Park umzutaufen, mit der Begründung, dass Quistorp und nicht Kasprowicz mit Stettin verbunden war. Kasprowicz war vielmehr mit den alten, nach dem Zweiten Weltkrieg verlorenen Ostgebieten Polens verbunden, u. a. durch seine Tätigkeit als Universitätsrektor in Lwiw (Lemberg, Lwów).

Aber sollte man den polnischen Namen des Parks, den er seit 1945 hat, wieder ausradieren? Ich würde das nicht tun. Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Park Kasprowicza ist auch ein schöner Name und er erinnert mich an meine Kindheit, gehört mittlerweile fest zur Identität der Stadt.

Der Gedenkstein für Quistorp aber ist wichtig. Denn man kann einen wichtigen Teil der Geschichte eines Ortes nicht amputieren. Es tut uns gut, das Vergangene, auch das erstmal Unliebsame, in unser kollektives Gedächtnis zu integrieren. Doch dafür muss die Zeit natürlich reif sein. Stettin ist nun seit 80 Jahren Polnisch – die Zeit ist definitiv reif. Und solche Aktivitäten laufen auch schon seit vielen Jahren auf Hochtouren.

Banner „80 Jahre polnisches Stettin“ im Kasprowicz-Park. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Banner „80 Jahre polnisches Stettin“ im Kasprowicz-Park
Foto: © Brygida Helbig, 2025

Nun schnell zum Abschluss meines Pechtages, der Beitrag wird viel zu lang. Ich hatte noch etwas Glück an diesem Tag. Als ich dabei war, den Park fluchtartig zu verlassen, lief mir plötzlich eine gute Bekannte mit Tochter entgegen – Kamila Paradowska, die auch einmal meine Studentin war und heute erfolgreich die Internetfirma für multimediale, digitale Inhalte Dobra treść (Guter Kontent) führt. Sie ist auch Fotografin und hat wohl die schönsten Porträts von mir, mitten unter den Stettiner Magnolien, gemacht. Auch das Foto, das diesen Blog „schmückt“, stammt von ihr.

Was macht sie auf der Aue? Sie bringt gerade ihre Tochter Karolinka zu einem Schüler-Konzert. Karolinka spielt Ukulele in einer ganz besonderen Musikschule – der „Akukulele“-Schule, die viele Kinder und Erwachsene glücklich macht und von Bartek Orłowski geführt wird. Das Abschlusskonzert der Schule findet an einer der beliebtesten Örtlichkeiten in Stettin statt, unweit vom Park und vom Rathaus – in Ogrody Śródmieście (Gärten Stadtmitte). Es soll einer der schönsten Veranstaltungsorte in Stettin sein. Es ist eine Grünanlage und ein Restaurant in einer denkmalgeschützten Stadtvilla (Villa Tiede) in der Wielkopolska Str. 19, bekannt für gutes Essen und kulturelle Veranstaltungen Tag und Nacht. Kamila Paradowska und Karolinka sind auf dem Weg dorthin. Denn das Licht ist nicht dazu da, unter dem Scheffel zu stehen …

Das ist der Durchbruch. Mein Tag kann daraufhin nur noch besser werden.

Karolinka beim Abschlusskonzert der Musikschule „Akukulele“. Foto: Facebook-Seite von "No i Pstryk fotografia"
Karolinka beim Abschlusskonzert der Musikschule „Akukulele“
Foto: Facebook-Seite von „No i Pstryk fotografia“
Kamila Paradowska (Dobra treść) spielt Ukulele und singt auf YouTube. Screenshot: Kamila Paradowska
Kamila Paradowska (Dobra treść) spielt Ukulele und singt auf YouTube
Screenshot: Kamila Paradowska

[1] Vor dem Krieg Westendsee.

[2] Vor dem Krieg Quistorp-Aue. Heute Johannes-Paul-II-Platz.

[3] Es steht näher am imposanten Gebäude der Stettiner Stadtverwaltung bzw. des Rathauses (Urząd Miasta), dem Sitz des Stadtpräsidenten, gebaut in den 1920er Jahren nach dem Entwurf von Georg Steinmetz.

[4] Polnisch: „Bo nie jest światło, by pod korcem stało, / ani sól ziemi do przypraw kuchennych, / bo piękno na to jest, by zachwycało / do pracy – praca, by się zmartwychwstało.” (Aus dem Poem „Promethidion”).

[5] Philosophisches Gedankengut von Herbert Spencer.

2 Gedanken zu „Der Quistorp-Gedenkstein im Kasprowicz-Park“

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