Stettin, Hafentor und Bürohaus
Foto: © Brygida Helbig, Stadtschreiberin Stettin/Szczecin 2025
Im Volksmund hieß das besondere, kleine Gebäude „Grzybek“, also „Pilzchen“, wegen seiner Form. Es stand an der viel befahrenen, großstädtischen Kreuzung der Aleja Niepodległości (Unabhängkeitsallee) 1 und der Ulica Stefana Wyszyńskiego (Stefan-Wyszynski-Straße) 2, die ich immer wieder gern überquere, energisch und entschlossen, da man dort als Fußgänger nicht trödeln darf. Verliebte und Freunde haben sich am „Pilzchen“ immer verabredet, wie an der Weltzeituhr in Berlin Alexanderplatz. Auch ich hatte dort Verabredungen, wahrscheinlich sogar mein erstes Date. Kein Wunder, dass mich dort nostalgische Gefühle überkommen.
Was beherbergte aber eigentlich „Grzybek“? In den 1970er Jahren wurde dort eine einstöckige Schalterhalle für den Verkauf von Straßenbahn- und Bus-Fahrscheinen errichtet (wo ich meine schulischen Monatskarten besorgte), und gleich daneben ein runder, modernistischer Pavillon in Pilz-Form, in dem die Verkehrsleitstelle und die Telefonzentrale untergebracht waren.
Heute befindet sich hier ein modernes, imposantes, von einer schwedischen Firma gebautes Bürohaus mit dem stolzen Namen Brama Portowa I (Hafentor 1) 3. Das siebenstöckige Bürohaus wurde nach dem ebenfalls an dieser Kreuzung stehenden barocken, prächtigen Stadttor benannt, das früher zur Festung Stettin gehörte und durch ein Täuschungsmanöver den Zweiten Weltkrieg überdauert hat. Es verdient einen eigenen Blog-Eintrag.
Heute muss ich aber erstmal schnell ins Bürohaus. Ich habe in der Ing-Bank etwas zu erledigen. Elegante, helle Räume, große Fenster bis zum Boden. Während die Mitarbeiterin meinen Ausweis scannt, sehe ich durch das Fenster eine Blumenfrau und ein paar Obdachlose, die in unserer unmittelbaren Nähe am Netto-Eingang sitzen und Bier trinken. Nur eine Fensterscheibe trennt unsere Welten.
Früher waren hier überall Tauben. Und getrunken hat man hier Sprudelwasser – entweder pur oder mit Saft (rot oder gelb) von einem fahrbaren Mineralwasserspender, dem legendären Saturator.

Foto: © Brygida Helbig, Stadtschreiberin Stettin/Szczecin 2025
Schräg gegenüber steht das imposante Post-Gebäude (Poczta Polska), von dem aus ich während des Kriegszustands Anrufe in die Bundesrepublik tätigte, auf die man oft stundenlang wartete und die abgehört wurden. Dieses Gebäude (Hauptpostamt Stettin) soll im Stil der Neugotik 1902 errichtet worden sein. Nun ja, die Post blieb Post und ist heute noch, glaube ich, Post. Aber auch das ist nur eine Frage der Zeit.

Foto: © Brygida Helbig, Stadtschreiberin Stettin/Szczecin 2025
Bei der Post habe ich heute aber nichts verloren, ich muss mich nach einem Augenarzt umsehen. Mein Auge hat sich plötzlich stark entzündet und es ist Samstag. Meine erste Idee ist der nah gelegene „Medicus“ – eine der größten und am längsten bestehenden Privat-Kliniken in Szczecin. Seit 1952 gibt es sie dort, anfangs allerdings als Fachärzte-Kooperative. Sie liegt direkt im Stadtzentrum, fast am Siegesplatz. Auch das war und bleibt ein fester Punkt auf dem Stadtplan, der Halt und Orientierung gibt. Auch hier kann man sich verabreden, auf einen Bus warten oder einen Pfannkuchen in einem kleinen, nahegelegenen Kiosk (wie in alten Zeiten) kaufen. Leider gibt es beim „Medicus“ gerade keine freien Termine.
Eine fremde Dame, die offenbar meine Verzweiflung sieht (die Menschen helfen sich hier gerne), gibt mir den Rat, die augenärztliche Notfallaufnahme des Krankenhauses im Stadtteil Pomorzany aufzusuchen. Dort würde man mir mit Sicherheit helfen können. Ich mag überhaupt keine Notaufnahmen, doch ich habe keine Wahl (dafür aber einen Hintergedanken!).
Und siehe da, es ist alles halb so wild, läuft wie am Schnürchen. Zwar ist die Lage anfangs etwas unübersichtlich, doch die Wartenden weisen sich gegenseitig an, was man ausfüllen und wo man warten muss. „Es wird schon“, jakoś to będzie, lautet bekanntlich die polnische Devise, die auch in Stettin gilt.

Foto: © Brygida Helbig, Stadtschreiberin Stettin/Szczecin 2025
Und es wird! Die Krankenschwester ist nett, solange man selbst nett und bescheiden bleibt. Nach anfänglichem Zögern akzeptiert sie meine europäische Krankenkarte (und so muss ich mich nicht in Unkosten stürzen), fragt sogar, was ich in Stettin so mache, sie würde gerne meinen Blog lesen. Von einer ebenso freundlichen Ärztin bekomme ich Behandlungs-Anweisungen sowie einen Code für das Rezept. Viel früher als in Deutschland wurden hier elektronische Rezepte eingeführt, es gibt keine Zettel-Wirtschaft mehr. Modernität wird in Polen großgeschrieben.
Und doch hat mein Besuch hier noch einen anderen Sinn. Ich möchte hier noch etwas anderes erledigen, etwas eher Rückwärts-Gewandtes. Ich möchte meinen Geburtsort im engeren Sinne sehen, was ich schon seit Längerem immer wieder tun wollte und bisher nicht tat. Das war der Hintergedanke meiner Eskapade.
Denn in diesem ambitionierten Uni-Klinikum habe ich 1963, achtzehn Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, das Licht der Welt erblickt. Heute heißt das Krankenhaus Uniwersytecki Szpital Kliniczny nr 2 PUM.4 Das Internet verrät: „Hier wurde 1879 das Städtische Krankenhaus Stettin errichtet, das Hauptkrankenhaus der Stadt, das als eines der modernsten Krankenhäuser in Europa galt. 1870 beauftragte die Stadtverwaltung das Berliner Architekturbüro von Martin Gropius und Heino Schmieden mit der Planung. Auf einer Anhöhe im Stadtteil Pommerensdorf am Westufer der Oder wurde es dann gebaut. Das Krankenhaus wurde erstmals im April 1943 von Bomben getroffen und durch die zahlreichen weiteren britischen Luftangriffe auf Stettin zum Teil zerstört.“

Heute gibt es in diesem Komplex sowohl die erhaltenen Vorkriegs-Gebäude als auch neue, nach dem Krieg dazu gebaute. Hier begann also meine persönliche Geschichte – mit einer Zangengeburt, die, wie meine Mutter betont, von einem hervorragenden Gynäkologen und überaus freundlichen Menschen, Dr. Łazar, abgenommen wurde. Eine Seltenheit damals, wie einfühlsam er gebärende Frauen behandelte, während manch anderer mit ihnen schimpfte. Nach der Geburt bekam meine erschöpfte Mutter hier eine Milchsuppe, die ihr besser schmeckte als alles andere auf der Welt.
Ja, das alles war hier. Hier habe ich meinen ersten Atemzug genommen, gar nicht weit entfernt von „Atrium Molo“, wo ich so gerne einkaufe – der einzigen Mole, die es in Stettin gibt.
Warum ist uns der Geburtsort überhaupt so wichtig? Warum wollen wir es so gerne wissen, wo wir zur Welt gekommen sind? Meine Mutter, die selbst in Ostpolen (heute Belarus) geboren wurde und die Kriegszeit mit ihren Eltern und Geschwistern in der Verbannung in Kasachstan verbracht hat, sagt immer wieder zu mir: „Szczecin – das ist doch deine Geburtsstadt!“ Und sie erwartet, wie ich glaube, dass ich hier leben möchte. Sie erwartet tiefere Gefühle von mir. Schaut mich erwartungsvoll an…
Und ja, ich habe diese Gefühle immer wieder mal, aber sie halten sich in Grenzen. Irgendwann habe ich allerdings verstanden, dass der Geburtsort für meine Mutter, die ihre Heimat nach der Grenzverschiebung Polens 1945 für immer verloren hat, noch viel mehr bedeutet als für mich. Das Haus der Eltern, der Raum, in dem die Familie seit Generationen lebte, in dem die Ahnen ruhen, wo Traditionen von Generation zu Generation gepflegt wurden – die Gegend, die in so vielen literarischen Werken beschrieben und romantisiert wird: Kresy, die östlichen Randgebiete…
Aus dieser Welt wurde sie gewaltsam herausgerissen, und es gab keine Rückkehr dorthin. Es war wie Amputation. Sie hat, wie die deutschen Stettiner, ihre Heimat verloren, die dann Bestandteil der Sowjetunion wurde. Deshalb ist für sie ihr Geburtsort (in der Nähe von Rubieżewicze) heilig. Er bedeutet ihr scheinbar noch viel mehr als Szczecin für mich. Szczecin – Stettin, das neue westliche Randgebiet von Polen, wo, als ich zur Welt kam, noch keine Ahnen von uns ruhten und noch keine Familien-Traditionen weitergegeben wurden. Szczecin – Stettin, das damals noch in keinen Gedichten in meiner Muttersprache besungen wurde, die mein junges Herz hätten berühren können.
Doch auch dies ist eine Frage der Zeit.
1 Früher Paradeplatz.
2 Früher Breite Str.
3 Früher Berliner Tor (auch als Brandenburger Tor bekannt)
4 Klinikum der Pommerschen Medizinischen Universität Nr. 2.