Der Siegesplatz in Stettin
Foto: Brygida Helbig
Fünf Monate lang werde ich hier Stadtschreiberin sein. Ich werde auf Stettin mit den Augen einer Außenstehenden, einer etwas Abseits-Stehenden, aber keiner Fremden schauen. Nein, ich bin hier nicht wirklich fremd. In dieser Stadt am Rande Polens gelegen, habe ich ja die ersten zwanzig Jahre meines Lebens verbracht. Ich habe Stettin eines dunklen Morgens am 1. November 1983, fast sofort nach der Aufhebung des vom Jaruzelski-Regime verhängten Kriegsrechts verlassen, als Studentin des zweiten Jahrgangs Polonistik an der damaligen Pädagogischen Hochschule, und bin mit einem jugendlichen Übermut in die Bundesrepublik ausgereist.
Natürlich habe ich in der inzwischen jahrzehntelangen Zwischenzeit oft Stettin besucht (das durfte ich allerdings erst nach ein paar Jahren, da der eiserne Vorhang nicht ohne Grund so hieß). Aber nie bin ich hier wirklich länger geblieben als ein paar Tage, selbst als Gastprofessorin an der Stettiner Universität. Ich habe erledigt, was zu erledigen war und eilte zurück zu meinen Pflichten und meiner Familie nach Deutschland.
Jetzt soll es anders sein, jetzt kann ich mir Zeit lassen, um die Stadt neu kennenzulernen, die jetzt so vollkommen anders ist und die ich nun bewusst wahrnehmen möchte.
Ich fahre mit dem Auto, Regen und Sonne wechseln sich ab. Es ist keine lange Reise. Ich komme aus der Nachbarstadt Berlin.
Die Grenze überschreitet man in Richtung Polen seit ca. zwanzig Jahren problemlos. Schlangen gibt es seit kurzem auf der entgegengesetzten Spur – wegen der Rückkehr der kontroversen Grenzkontrollen. Ach ja, Kontrollen gab es auf beiden Seiten auch in der Pandemie-Zeit. Man kann es mit den Grenzen nie wissen. Mal verkündet man, sie wären nicht mehr da, und dann tauchen sie plötzlich und unerwartet wieder auf.
Wer begrüßt mich als erster auf der polnischen Seite? Das gigantische, graue Gebäude von Amazon natürlich. Ich versuche nicht zu bewerten. Nur zu sehen. Mehr Freude hat mein Auge dennoch an Mohnfeldern, die mich von beiden Seiten der Landstraße willkommen heißen.
Fahre an einem kleinen „Polenmarkt“ vorbei, wie man es früher nannte. Gartenzwerge gibt es mittlerweile nicht mehr so viele, gefragt sind andere Skulpturen und Gartenzubehör. Ich fahre an Lidl und Aldi vorbei, an Kaufland und anderen Einkaufstempeln. Fahre über das Hermann Haken-Rondell, benannt nach dem langjährigen Oberbürgermeister des deutschen Stettin (1878–1907). Ja, seit Jahrzehnten besinnt man sich wieder auf das Erbe der Deutschen in dieser Stadt, sogar mit Leidenschaft.
Gerade ist der neue Präsident Polens gewählt worden, Karol Nawrocki. Unterwegs sehe ich aber vor allem Wahl-Plakate mit dem Namen seines Konkurrenten Rafał Trzaskowski: Ganz Polen vorwärts, Ganz Polen gewinnt. In Stettin soll die Mehrheit der Bevölkerung für diesen den neoliberalen und europäischen Werten verpflichteten Kandidaten gewesen sein. Der Sieg Nawrockis ist sehr knapp ausgefallen. Fast die Hälfte der Wähler in Polen ist nun bitter enttäuscht. Die andere Hälfte freut sich. Polen ist geteilt, wie viele andere Länder auch.
Nur noch der Baumarkt Castorama, gefolgt von Ikea und ich bin gleich im Zentrum, ohne die Oder überqueren zu müssen, denn Stettin liegt momentan noch hauptsächlich auf der linken Seite des Grenzflusses, der hier nicht wirklich die Grenze markiert. Dies soll sich aber ändern, wie ich am Abend in den Reiseführern lesen werde – einem Geschenk der Stadt. Der Schwerpunkt von Stettin soll aufs andere Oder-Ufer verlagert werden, wo es sehr viel Wasser und sehr viel Grünes gibt, ein großes Potential der Hafenstadt, die bis 2050 eine Art floating garden werden soll.
Man fährt hier schneller als in deutschen Städten, in Berlin. Zügig und ungeduldig. Man strebt vorwärts. Dieses Tempo ist nicht nur im weit entfernten Warschau zu spüren. Auch hier.

Foto: © Brygida Helbig
Als ich Anfang der 80er Jahre von hier wegging, waren fast alle Häuser grau, die ehemals deutschen (meist renovierungsbedürftigen) Altbauten, und auch die Neubauten. In den Neubauten wollten viele wohnen, meine Eltern auch, um mit dem Geist der Zeit zu gehen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und so bin ich im Neubau aufgewachsen, im Zentrum der Stadt, in der Nähe des heutigen Einkaufszentrums Galaxy am Plac Żołnierza (Platz des Soldaten). 1 Die Kindheit verbrachte ich in der Ulica Bazarowa (Basar-Straße) 2. Auf den Ruinen begann, als ich zur Welt kam, der Bau meiner Grundschule.
In unseren Neubausiedlungen spielten wir als Kinder ein schönes Spiel – es hieß „Niebko“, „Himmelchen“. Man sammelte Scherben von Bier- oder Wodkaflaschen. Man sammelte Blüten, silbernes oder goldenes Bonbonpapier, grub ein Loch in die Erde, machte kleine Kollagen daraus und legte die Scherben vorsichtig darüber und bedeckte sie mit Erde – unsere kleinen Schätze, die es zu behüten galt. Dieses Kinderspiel wurde zum Titel meines Romans „Niebko“, in dem Stettin eine große Rolle spielt. In deutscher Übersetzung heißt er „Kleine Himmel“.
Im Altbau habe ich nie gewohnt. Nie war ich von ehemals deutschen Gegenständen umgeben, habe nicht aus einer deutschen Schüssel gegessen, mit einem deutschen Löffelchen, wie es Karolina Kuszyk scherzhaft in ihrem Buch „In den Häusern der Anderen“ schildert. Ich hatte aber einen Schulfreund, der sich schon als Teenager mit ganzem Herzen der Suche nach den Spuren der Deutschen im Stadtbild verschrieben hatte. Von ihm erfuhr ich, dass die Stadt ein Palimpsest ist, dass unter der polnischen Oberfläche sich eine andere Schicht verbirgt. Offiziell sprach man ja damals nicht davon und ich fragte mich nicht, was es mit dem Namen „Wiedergewonnene Gebiete“ auf sich hatte.

Foto: © Brygida Helbig
Meine Stadtschreiber-Wohnung ist sehr zentral gelegen, neben der Straße Wojska Polskiego, der Polnischen Armee 3. Also gehe ich erstmal über diese repräsentative, vor kurzem umgebaute Straße spazieren. Ich gehe vom Plac Zwycięstwa (Siegesplatz) 4 mit seinen zwei Kirchen an der schönen Stadtbibliothek in einem entzückenden alten Haus mit zwei Türmchen vorbei, an dem Kino Pionier (seit 1907 dort und funktioniert noch!), an der Stempelfirma Wytwórnia Pieczątek Eurograw (seit 1946 dort). Ich springe auf die andere Straßenseite und schaue mal um die Ecke nach dem schönen Kino meiner Kindheit mit dem Namen „Kosmos“, das nun hinter neu gebauten Häusern versteckt wurde, so dass das wunderschöne Mosaik an seiner Fassade leider nicht mehr zu sehen ist. Versteckter Schatz! Dabei war das Kino wohl das erste Gebäude, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Stettin (1959) von Grund auf neu erbaut wurde. Es soll geschlossen worden sein, weil es mit den neuen Multiplexen in Stettin nicht konkurrieren konnte.

Foto: © Brygida Helbig
Ich schaue mir noch die Hochhäuser an, die großen Neubauten, die ich irgendwie mag, da sie mich an meine Kindheit erinnern. Irgendwo hier wurde immer bei den Feierlichkeiten zum 1. Mais eine Tribüne aufgestellt und die Parteispitze nahm die Parade der Betriebe ab. Wir Kinder freuten uns über diese Kirmes-Stimmung mit Luftballons, Gummibällen, Windrädchen und Lutschern.

Foto: © Brygida Helbig
Genau in dieser Gegend, in unmittelbarer Nähe zu meiner Stadtschreiberwohnung, befand sich auch die erste Wohnung meiner Mutter, als sie Anfang der 50er Jahre nach Stettin kam.
Ich muss noch dies und jenes besorgen. Vorm Einkaufszentrum „Atrium Molo“ flucht jemand ein wenig am Parkscheinautomaten. Die Automaten hat es hier noch vor einem halben Jahr nicht gegeben. Wenn man vergisst, dort sein Autokennzeichen einzugeben, zahlt man Strafe. Ich versuche mir das einzuprägen. Gehe zu Rossmann, wo mir einfällt, dass ich noch keine polnische Rossmann-, geschweige denn eine Żabka-App habe.
Das Wetter ist gut, und trotzdem werde ich am Abend nicht am Strand sitzen, denn Stettin liegt – Überraschung für so manchen Krakauer – nicht direkt am Meer! In meinem Reiseführer steht es schwarz auf weiß: „Stettin- die Hauptstadt der Wojewodschaft Westpommern liegt im nordwestlichen Teil Polens an der Mündung der Oder in das Stettiner Haff, 65 km von der Ostsee-Küste, ca.130 km von Berlin, 274 km von Kopenhagen, 454 km von Stockholm, 507 km von Prag und 517 km von Warschau entfernt.“

Foto: © Justina Helbig
Na gut, die Meeresluft ist schon zu spüren, und ein paar Möwen kreischen sicher auch an der Oder, das war doch irgendwie schon die Geräusch-Kulisse meiner Kindheit. Auch wenn ich heute nur ein turtelndes Täubchen-Paar über einem Piroggen-Imbiss gesehen habe.
Na gut, wie dem auch sei, schlaf schön, mein Stettin, und träume mit mir zusammen von Mohnfeldern, schwimmenden Gärten und verschwimmenden Grenzen.
1 früher Königsplatz
2 früher Friedrich Wrangel Straße
3 früher Falkenwalder Straße
4 früher Hohenzollernplatz
Wie schön schreibst Du über Stettin. Auch meine Stadt. Ich wohnte um die Ecke, paar Meter weiter, Ul. Sciegiennego, im Altbau aber ohne deutschen Spuren. Die waren schon weggeklaut, als meine Mutter kam. Es gab aber viele Zeichen die an die frühere Bewohner erinnert haben. Deswegen haben wir Kinder die Propaganda Parolen: „Wir sind hier nicht gekommen, wir sind hier zurückgekehrt“ immer ausgelacht, zum Schreck der Eltern.
Danke! Es tut gut es zu lesen. Bin gespannt auf die Fortsetzung! Viele Grüße!
Danke, liebe Anna! Ja, es ist etwas anderes, im Altbau gelebt zu haben. Da hat man vieles geahnt. Bei mir war das anders… Wir reden noch darüber! Liebe Grüße.
Ciekawy artykuł cieszę się na następny
Dziękuję serdecznie, już zabieram się do pisania!:)
Dziękuję serdecznie, Panie Robercie! Państwa zainteresowanie to motywacja, aby pisać dalej.:)
Wunderbar erzählte Erlebnisse und Eindrücke der ersten Tage in Stettin.
Bin sehr gespannt und neugierig auf weitere Geschichten!
Danke, liebe Edith! Ich freue mich sehr, dass es Dir gefällt. 🙂