Musik, Tanz, Traditionen Westpommerns und die verzauberte Altstadt von Stettin

Die Szczecin Philharmonic Big Band mit Maniucha Bikont beim »Turnier der wahren Musiker«. Foto: © Veiko Boden

Die verrückten drei Tage mit Tanz und Musik in der Stettiner Philharmonie haben mit Schwung begonnen und hatten einen krönenden Abschluss. Den letzten Abend des Turniers der wahren Musiker [1] habe ich mit Freunden im Biergarten des unter Studierenden beliebten Kana-Theaters [2] unter freiem Himmel bei live Musik verbracht (die Gäste hatten Instrumente mit, eine Leinwand war auch da). Und es gab noch einen wunderbaren Blick auf die Mondfinsternis über der Oder mit der blutroten Mondsichel gratis dazu. Aber wie kam es überhaupt dazu, dass ich dabei war?

Vor ein paar Wochen habe ich die Einladung angenommen, an einer Debatte zur Identität Westpommerns teilzunehmen – ein Begleitprogramm zum Turnier. Das Angebot kam von Kaciaryna Bychak, einer Anthropologin und Theologin, die mit der Philharmonie und der prominenten Kunstgalerie TRAFO zusammenarbeitet, und zurzeit an der Universität Stettin zur Rezeption der ländlichen Religiosität des 19. Jhs. in der modernen Welt promoviert. Wie spannend! Kaciaryna Bychak lebt seit Jahrzehnten in Polen, kommt aber aus Belarus. Der interkulturelle Dialog liegt ihr am Herzen, und sie achtet darauf, dass deutsch-polnische Debatten auch andere Kulturen mit einschließen. Bei einem Tee im Café Sowa haben wir uns darüber ausgetauscht, ob man Identitäten überhaupt von oben (durch Literatur, Kultur, Wissenschaft, Politik) „verordnen“ kann oder ob sie sich nur „von unten“ entwickeln können – das Hauptthema der Debatte. Unser Gespräch endet bei unseren Patchwork-Heiligabendtraditionen, ich empfehle die Holobtje der Galiziendeutschen. Ja, natürlich mache ich mit.

Musik verbindet Menschen. Auch Tanz verbindet Menschen. Das Turnier, das bereits seit 10 Jahren stattfindet, macht es sich zum Motto. Eingeladen werden Musikerinnen und Musiker, die traditionelle Folklore spielen oder modern interpretieren. Zum dritten Mal sind deutsche Partner am Projekt beteiligt – der Musikverein Pasewalk und der Verein polenmARkT e.V. aus Greifswald. [3]

Der Auftakt übertrifft meine Erwartungen – ein außergewöhnliches Konzert der Szczecin Philharmonic Big Band mit einem kraftvollen, unterhaltsamen Repertoire, das Film-, Jazz- und Swingmusik miteinander verbindet. Die Band tritt diesmal mit Künstlern traditioneller Musik (Preisträgern früherer Turniere) auf. Ich sitze ganz oben im Goldenen Sinfoniesaal und schaue nach unten auf die Bühne. Da wird es mir aber richtig schwindlig und ich muss ein paar Reihen runtergehen. Der Schwindel bleibt, aber aus anderen Gründen – der Auftritt ist betörend.

Geboten wird uns „ein neues, eigens komponiertes und arrangiertes Musikprogramm, das sich auf die musikalische Vielfalt Westpommerns konzentriert – sowohl auf die nach 1945 zugewanderte Musiktradition als auch auf das deutsche Repertoire aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.“ [4] Es geht u.a. darum zu zeigen, wie man etwas Gemeinsames aus der Verbindung dieser Traditionen schafft. Besondere innere Resonanz spüre ich beim Gesang von Maniucha Bikont aus Warschau. Die promovierte Anthropologin und Kennerin der osteuropäischen Folklore ist auch Sängerin, Instrumentalistin, Komponistin. Ein Lied mag ich besonders, über eine wütende Frau, die genug hat: Dam dyla (Ich haue ab). Auch die Folklore-Gruppe Bujne Ziele (Üppiges Kraut) unter der Leitung von Ewa Grochowska singt sich die Seele aus dem Leib – mit Liedern aus den Familientraditionen der Bandmitglieder, deren Familien nach 1945 nach Westpommern kamen [5]. Welch eine Wucht.

Der Heumarkt (Rynek Sienny) mit dem Alten Rathaus und den in den 1990er Jahren wiederaufgebauten Häusern. Foto: © Brygida Helbig
Der Heumarkt (Rynek Sienny) mit dem Alten Rathaus und den in den 1990er Jahren wiederaufgebauten Häusern
Foto: © Brygida Helbig

Beseelt lasse ich diesen Abend im Biergarten des Restaurant U Wyszaka ausklingen. Das fruchtige IPA-Bier tut gut. Ein bisschen Wehmut kommt dennoch auf. Wie schade, dass man nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen kann und ich nicht beim Konzert Die Musik der Neuen Synagoge: Dawid Ajzensztadt in der Evangelischen Dreifaltigkeitskirche [6] auf der anderen Seite der Oder sein konnte, das im Rahmen der Internationalen Tage der Jüdischen Musik zeitgleich stattfand – mit dem Tenor Wojciech Parchem. Wir tauschen noch ein paar SMS. „Vielleicht stößt Du jetzt noch zu uns, Wojtek? Wir sitzen in der Altstadt.“ „Was? Stettin hat eine Altstadt?“, witzelt der Sänger. Na ja, die Altstadt von Szczecin… Es ist natürlich kein Krakau, machen wir uns nichts vor. Und trotzdem irgendwie schön, der kleine Heumarkt Rynek Sienny [7] mit dem Alten Rathaus, das ursprünglich im 12. Jahrhundert im gotischen Stil erbaut, und im 17. Jahrhundert im barocken Stil umgebaut wurde. Um die Ecke andere Sehenswürdigkeiten: der Siebenmäntelturm [8] aus dem 15. Jahrhundert,das Renaissance-Schloss der Pommerschen Herzöge, die beeindruckende gotische Jakobikathedrale mit ihrem Aussichtsturm.  Dort befindet sich auch das Ibis Style Hotel, wo viele Gäste des Turniers untergebracht sind. Gleich um die Ecke der tolle Jazzmentclub, wo immer was los ist. Und man spürt den Atem der Oder…

Der Siebenmäntelturm (Baszta Siedmiu Płaszczy, bis 1945 Frauenturm). Foto: © Brygida Helbig
Der Siebenmäntelturm (Baszta Siedmiu Płaszczy, bis 1945 Frauenturm).
Foto: © Brygida Helbig

Der zweite Tag steht unter dem Vorzeichen der (für alle offenen) Wettbewerbsvorspiele. Dieses Turnier ist nicht bloß ein Turnier, jeder kann an Tanz, Musik- und Gesangsworkshops zur Folklore Westpommerns teilnehmen. Auch Kinder. Am Abend während der Jam-Session [9] im Foyer werden die Resultate präsentiert. Aufgepasst! Man kann jederzeit zum Tanz aufgefordert, mitgerissen werden, Widerstand ist zwecklos. Eine besondere Rolle spielt dabei der Folklore-Forscher und Tanzmeister Ryszard Długopolski, der uns traditionelle Tänze und Kostüme aus Pommern präsentiert und auch wieder Ewa Grochowska, die ebenfalls nicht nur singt, tanzt und lehrt, sondern auch Forscherin der traditionellen Musikkultur Mittel- und Osteuropas ist.

Workshop-Teilnehmerinnen und Teilnehmer tanzen im Foyer der Philharmonie. Foto: © Brygida Helbig
Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer tanzen im Foyer der Philharmonie.
Foto: © Brygida Helbig
Mit dem Tanzmeister und Folkloreforscher Ryszard Długopolski und Beata Wolanin
Mit dem Tanzmeister und Folkloreforscher Ryszard Długopolski und Beata Wolanin

Und nun der Programmpunkt, an dem ich beteiligt bin – die Debatte um die vielfältige Identität von Westpommern und ihre Zukunft, moderiert von Kaciaryna Bychak. Dabei beginnt die Problematik schon bei der Terminologie, denn die Bezeichnung „Westpommern“ wird in Deutschland nicht angewandt, man spricht vielmehr im Vergleich von „Vor“ bzw. „Hinterpommern“… Meine Diskussionspartnerin ist Prof. Karolina Ćwiek Rogalska – Kulturwissenschaftlerin und u.a. Forscherin zu den Westgebieten Polens,  Autorin eines sehr empfehlenswerten, noch nicht ins Deutsche übersetzten Bandes Ziemie. Historie odzyskiwania i utraty (Landstriche. Geschichten von Wiederaneignung und Verlust). Zur Diskussion steht, „ob und inwieweit eine gemeinsame, transnationale Identität – auch im Bereich musikalischer Ausdrucksformen (…) in der Grenzregion denkbar und tragfähig ist.“ [10] Wir sind uns einig, dass sich eine solche Identität noch nicht wirklich entwickelt hat. Sie könnte durch gemeinsame Aktivitäten entstehen, z.B. durch gemeinsames Muszieren. Wichtig sind, so denke ich – gemeinsames Lachen, gemeinsame Ziele, und nicht zuletzt Geschichten, die wir dann darüber erzählen, die sich vielleicht sogar irgendwann zu gemeinsamen Traditionen und Legenden verdichten. Solche Identitäten entstehen auch schon im deutschen Grenzgebiet, wo sich viele Polinnen und Polen ansiedeln. Vereine oder Institutionen können solche Prozesse unterstützen, aber sie müssen von unten „getragen“ werden.

Die Debatte zur Identität Westpommerns mit: (v.l.) Kaciaryna Bychak, Brygida Helbig und Karolina Ćwiek-Rogalska
Die Debatte zur Identität Westpommerns mit (v.l.) Kaciaryna Bychak, Brygida Helbig und Karolina Ćwiek-Rogalska

Wir sprechen auch darüber, wie sich die Literatur der Problematik der polnischen Westgebiete nähert, die polnische (Inga Iwasiów, Artur Daniel Liskowacki, Krzysztof Niewrzęda, Karolina Kuszyk, auch ich) und die deutsche (Christiane Hoffman, Julia Franck, Roswitha Schieb u.a.). Aus dem Publikum kommen viele Fragen, z.B. zu den Unterschieden zwischen Breslau und Stettin – die Zusammensetzung der Bevölkerung, die sich hier ansiedelte, der Umgang mit dem deutschen Kulturerbe… Ein älterer Herr aus Deutschland erzählt rührend darüber, wie schlecht er als Flüchtlingskind nach dem Zweiten Weltkrieg behandelt wurde. Dabei habe ihm seine Mutter immer gesagt, das wichtigste wäre, ein Mensch zu sein, ob man Pole oder Deutscher ist, sei egal. Leider aber nicht für alle… Die Enttäuschung war bitter, als er doch in Deutschland und in Polen gleichermaßen als fremd wahrgenommen wurde. Deshalb sind ihm kollektive Identitätszuschreibungen grundsätzlich suspekt.

Ich kann das gut verstehen. Auch ich bin der Meinung, dass es wichtig ist, wenigstens ein Minimum (besser mehr) an Unabhängigkeit von kollektiven Identitäten und Narrativen zu bewahren. Ja, wir können und sollen gemeinschaftliche Traditionen und Rituale (die uns gefallen) pflegen, unsere kollektiven Geschichten und Mythen kennen, dabei aber bewusst auswählen und auch auf Distanz gehen, wenn sich Geschichten zu steifen, scheinbar „alternativlosen“ Ideologien und autoritären Denk- und Sprachstrukturen entwickeln, Menschen anderer „Lager“ diffamieren und dämonisieren, egal ob rechts, links oder sonst wo. Denn die Gefahr manipuliert zu werden, ist groß. Die Geschichte hat es uns gelehrt. Und heute ist das wichtiger denn je. Sehr überzeugend schreibt darüber u.a. der Psychoanalytiker Arno Grün in seinem Buch Der Fremde in uns. [11]

Nach der Debatte besteht immer noch Diskussionsbedarf. Viele Gäste aus Deutschland und Polen kommen zu uns, um weiterzureden, u.a. Ariel Wojanowski, Jurist, Hispanist, Hebräisch-Kenner, aus Wrocław, der sehr berührt ist von der soeben gehörten Geschichte des älteren Mannes. Ein paar Tage später flattert eine Mail von ihm in mein Postfach. Es schwebt ihm ein offener Raum für den Dialog vor, „ein Raum, in dem Menschen über Schmerz, über Gefühle sprechen können und gehört werden, in dem Professoren, Forscherinnen und ‚gewöhnliche‘ Menschen sich nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen begegnen“. Ja, er spricht mir aus dem Herzen.

Nun bin ich wieder beim Abschiedsabend des Turniers angelangt. Wie anfangs gesagt, haben wir gerade ein ekstatisches Spektakel hinter uns – das feierliche Abschlusskonzert in der Philharmonie. Nach den Preisverleihungen in der traditionellen und der experimentellen Kategorie spielen für uns keine geringeren als die Warsaw Village Band [12], eine Legende der polnischen Folkszene. Wir erleben eine hypnotische Verschmelzung von traditionellem osteuropäischem Folk mit seinem wunderbaren Weißen Gesang mit dem Rhythmus des jamaikanischen Ska, getragen von Bläsern, Bass, Schlagzeug und Keyboard… Im Biergarten des Kana-Theaters folgt dann das nächste Spektakel – die Mondfinsternis. Die Welt ist heute abgefahren und verzaubert, trotz allem. Lassen wir sie nicht wieder zerstören.

Konzert der Warsaw Village Band. Foto: © Veiko Boden
Konzert der Warsaw Village Band
Foto: © Veiko Boden

Danach will ich mit Freunden noch kurz beim „U Wyszaka“ einkehren. Mein Lieblingsrestaurant hat aber schon zu, die Stühle auf den Tischen ergeben ein trauriges Bild. Sonntagabend eben. Wir machen uns Richtung Brama Portowa [13] auf den Weg, laufen an der majestätischen Jakobikathedrale vorbei. Von dort hört man noch den Pfarrer singend die Gemeinde segnen. So spät noch eine heilige Messe? Ja, die letzte, studentische, immer am Sonntag um 21 Uhr. Auch ich segne und żegnam [14] diesen beseelten Tag in Stettin. Ach, was soll ich sagen…

Wyszyńskiego-Straße, rechts die Jakobikathedrale. Foto: © Brygida Helbig
Wyszyńskiego-Straße, rechts die Jakobikathedrale
Foto: © Brygida Helbig

[1] Polnisch: Turniej Muzyków Prawdziwych. In diesem Jahr fand das Turnier vom 04.-07. September statt. Informationen unter:  www.turniej.filharmonia.szczecin.pl

[2] Ośrodek Teatralny Kana am Platz des Heiligen Peter und Paul (pl. św. Piotra i Pawła 4/5), vor 1945 Moltke-Platz.

[3] Das nah gelegene Pasewalk, wo sich mittlerweile viele Menschen aus Szczecin angesiedelt haben, bietet sich als Partner an. Aber auch Greifswald ist, ähnlich wie Lübeck, eng mit Stettin verbunden, da viele Stettiner nach dem Zweitem Weltkrieg dort ihr neues Zuhause gefunden haben.

[4]Das Programm unter: www.turniej.filharmonia.szczecin.pl

[5] Es erklingen an diesem Abend aber auch u.a.: eine Zymbal (Mateusz Czarnowski), eine Geige (Kacper Malisz), die traditionelle osteuropäische Rahmen-Trommel (Mateusz Dobrowolski). Zwei Musiker aus Norddeutschland sind auch dabei – Wolfgang Meyering und Ernst Poets.

[6] Polnisch: Kościół Ewangelicko-Augsburgski Świętej Trójcy.

[7] Der Marktplatz wurde im Mittelalter angelegt – aus dieser Zeit stammt auch sein Name, der sich von dem Handel mit Heu ableitet, der dort stattfand.  Wie ich lese, wurde die Altstadt von Stettin im Zweiten Weltkrieg größtenteils durch Bomben zerstört. Viele der früheren farbenfrohen Bürgerhäuser wurden durch Plattenbauten ersetzt. Man entschloss sich, die Ruinen der Wohnhäuser und des Börsengebäudes abzureißen, das Rathaus im gotischen Stil (drei Wände) und barocken Stil (die südliche Giebelwand) wiederaufzubauen. Die westliche Seite wurde durch drei mehrstöckige Gebäude ersetzt. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre begann man mit dem Wiederaufbau der Wohnhäuser an der südlichen und westlichen Seite des Marktes. Einige Gebäude erhielten ein Aussehen, das dem vor 1945 ähnelt.

[8] Baszta siedmiu płaszczy, vor 1945 Frauenturm. Auf der Seite www.visitszczecin.eu gibt es Informationen zu vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt – u.a. dem Schloss, der Jakobikathedrale, und auch zu diesem Turm – einem Teil der mittelalterlichen Befestigungsanlagen, um den sich Legenden ranken.

[9] Die Jam Session wurde vor allem von der deutsch-polnischen Gruppe PoMore TanzOrkiestra gestaltet, die es sich zum Ziel setzt, die traditionelle Musik Pommerns neu zu beleben.

[10] Quelle: www.turniej.filharmonia.szczecin.pl.
Ein weiterer Aspekt der Diskussion war die Rolle migrantischer Kulturen in den Identitätsnarrativen der Region (wie fügen sie sich in die bestehende Vielstimmigkeit ein und wie können sie diese bereichern). Zugleich reflektierten wir, wie Forschende und Kulturschaffende diese Prozesse unterstützen können (z. B. indem sie sie dokumentieren, interpretieren und die Stimmen stärken, die neue Identitätserzählungen Westpommerns formen).

[11] Arno Grün, Der Fremde in uns, Stuttgart 2022.

[12] Polnisch: Kapela ze Wsi Warszawa.

[13] Vor 1945 Berliner Tor.

[14] Das polnische żegnam bedeutet eigentlich „ich verabschiede mich“, es kommt aber vom segnen.

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