Künstlerfrühstück in der Lentz-Villa (Willa Lentza) im Stadtteil Westend
Foto: © Brygida Helbig, 2025
Stettin ist voller Menschen, die ich liebe und schätze. Oder zumindest, die ich kenne und bewundere. Oder zumindest, die ich kennen sollte. Stettin platzt vor Geschichten, die noch erzählt und gehört werden wollen.
In dieser Folge geht es vor allem um Menschen, und natürlich um die Fortsetzung der Geburtstags-Feierlichkeiten der Stadt, denn damit sind wir noch nicht fertig.
Leider verspäte ich mich gern, ich plane zu viel, ich will zu viel auf einmal, und dann passieren unerwünschte Dinge, unerwartete Pannen, dann sagt das Schicksal zu mir: Stopp! Halte an! Du bist nicht die rasende Reporterin Karla Kolumna! [1]
Diesmal streikt mein Auto, es kommt nicht in die Gänge. Zur feierlichen Sitzung des Stadtrates am Freitag, den 4. Juli, schaffe ich es also mit Verspätung (aber das macht nichts, sage ich mir, da die Sitzung ewig lange dauert, Leute gehen ein und aus). Die Sitzung ist wichtig für mich, da jemand, den ich sehr schätze, geehrt werden soll. Sie findet im linken Flügel des Rathauses statt, wo früher die Philharmonie war, die ich als Kind mit meiner Schulklasse ab und zu besucht habe.
Ich verpasse feierliche Reden, was etwas schade ist, aber nicht weiter schlimm. Gesprochen hat u.a., wie ich erfahre, der in Stettin geborene Senator und ehemalige Senatsmarschall Tomasz Grodzki, der wie ich das „legendäre“ Lyzeum Nr. 2 in Stettin besucht hat (nur kurz nach mir), und den ich 2023 in der Geschäftsstelle der Polonia in Berlin empfangen durfte – einer der bekanntesten Politiker, die mit Stettin verbunden sind.

Foto: © Andrzej Koston
Als ich komme, ist seine Rede schon vorbei. Ich setze mich unauffällig ganz nach hinten, es werden gerade zwei Menschen für ihr außergewöhnliches soziales Engagement als Ehrenbotschafter der Stadt ausgezeichnet – Barbara Jaskierska für ihren 48-jährigen Einsatz für Menschen mit geistigen Einschränkungen, und der Kapitän Mirosław Lewiński (der allein die Welt umsegelte) für Expeditionen mit Jugendlichen, die von sozialer Ausgrenzung bedroht sind und für eine Rettungsaktion für Migranten im Mittelmeer.
Und dann die Verdienstmedaillen, auf die ich warte. Ausgezeichnet wird Prof. Maria Czerepaniak-Walczak, Pädagogik-Professorin an der Universität Stettin [2] – u.a. für ihre Verdienste für die Lehrerbildung und die Förderung der Pädagogik-Forschung. Die zweite Medaille bekommt Bogdan Twardochleb, Polonist, hervorragender Literatur- und Musik-Kenner, der sich besonders stark für die deutsch-polnischen Beziehungen einsetzte.
Bogdan Twardochleb war drei Jahrzehnte lang Redakteur der regionalen Zeitung Kurier Szczeciński (Stettiner Kurier), die es seit 1945 gibt und zu deren treuen Leserinnen meine Mutter gehört. Aber auch ich schaue da immer wieder mal gerne rein. Begeistert war ich von der zweisprachigen Beilage der Zeitung mit dem Titel Przez granice (Über die Grenzen), die sich mit den Belangen des deutsch-polnischen Grenzraums beschäftigte, und die Twardochleb mehrere Jahre lang als Chefredakteur betreute. Seit 2019 gibt es sie leider nicht mehr. Sehr schade!
Warum ist der Geehrte so wichtig für mich? Vor allem, weil er mir durch sein uneigennütziges Engagement, seine Klugheit, Wärme und Bescheidenheit sehr sympathisch ist. Zum anderen weil ich mit ihm zusammen gearbeitet habe. Ich durfte ein paar Mal einen Text für seine Beilage verfassen, und im Juli 2022 einen längeren Nachruf über meinen Vater in Kurier Szczeciński publizieren. [3] Aber mehr noch. Bogdan Twardochleb hat mich im ersten Jahr meines Studiums an der Pädagogischen Hochschule in Stettin (1982/1983) unterrichtet, im Fach Einführung in die Literaturwissenschaft. So etwas vergisst man nicht.

Screenshot: © Brygida Helbig, 2025
Nach der feierlichen Sitzung werfe ich noch ein Blick auf die Ausstellung 80 Jahre polnisches Stettin auf der Wiese Jasne Błonia, die gerade vom Stadtpräsidenten eröffnet wird – mit Fotos von besonderen Momenten der Stadtgeschichte. Eine meiner Stettiner Freundinnen Prof. Inga Iwasiów ist auch da. Ein netter Plausch nach der Ausstellung bei gutem Wetter tut uns gut…

Foto: © Brygida Helbig, 2025

Foto: © privat

Foto: © Brygida Helbig, 2025

Foto: © Brygida Helbig, 2025
Zumal ein Ende des Geburtstagsmarathons noch nicht in Sicht ist. Der nächste Tag kommt bestimmt. Am Samstag, den 5. Juli, muss ich eine schwierige Entscheidung treffen. Möchte ich zum Rosengarten Różanka und dort von der riesigen Torte kosten, die der Stadtpräsident Krzystek persönlich aufschneiden und den Bürgerinnen und Bürgern servieren wird? Oder möchte ich lieber einem Künstlerfrühstück im Garten der prächtigen Willa Lentza (Lentz-Villa) im Stadtteil „Westend“ (Łękno) beiwohnen?
Ich entscheide mich schweren Herzens für die Villa, das Künstlerfrühstück, den Garten bzw. die Wiese (śniadanie na trawie) – es klingt so verlockend! Die architektonisch wunderschön gestaltete Lentz-Villa in der Wojska-Polskiego-Allee [4] ist eins der kulturellen Zentren der Stadt. Errichtet wurde sie in den Jahren 1888/1889 im eklektischen Stil des Kaiserreichs nach einem Projekt von Max Drechsler für den Direktor und Aktionär der Stettiner Chamottefabrik August Lentz (1830–1895). Sie blieb bis in die 1930er Jahre im Besitz der Familie.

Foto: © Brygida Helbig, 2025

Foto: © Brygida Helbig, 2025
Am heutigen Tag sollen dort nicht nur Stettiner Kulinarien, sondern auch Stadtgeschichten und die Stettiner Musik der letzten 80 Jahre aufgetischt werden – live von Stettiner Musikerinnen und Musikern gespielt und gesungen. [5] Der Garten der Villa ist von Farben und sommerlicher Leichtigkeit erfüllt. Viele Damen tragen Hüte und historische Kostüme. Als ich ankomme, reisen alle gerade musikalisch in die Vergangenheit des polnischen Szczecin.
Ich höre Musikstücke, die mit mir etwas zu tun haben. Zum Beispiel Lieder von der Pop- und Jazz-Sängerin Anna Jurksztowicz, die im besagten Lyzeum Nr. 2 meine Klassenkameradin und gute Freundin war und bereits damals mit ihrer Gospel-Spiritual-Band Music Market als Vokalistin auftrat. Obwohl wir uns jeden Tag in der Schule gesehen haben, haben wir uns gegenseitig Briefe geschrieben – „philosophische Briefe“, wie wir es nannten, über Bücher, Philosophen, den Sinn des Lebens, aber auch Alltägliches… Kurz nach meiner Ausreise nach Deutschland begann Anna ihre Diven-Karriere mit dem Hit Diamentowy Kolczyk (Der Diamantenring), mit dem sie auf dem Musikfestival in Opole im Jahr 1985 glänzte.
Aber das ist noch nicht alles. Villa Lentz hat heute noch mehr zu bieten. Was mir besonders gute Laune macht, sind Lieder der polnischen Kultband der 60er Jahre Filipinki, die mit viel Energie nachgesungen werden. Die ehemaligen Vokalistinnen dieses Stettiner-Ensambles sind heute über 80 Jahre alt (sie sind aber nicht dabei). Meine gesangliebende Mutter hätte eine von ihnen werden können, wenn sie ihre Handelsoberschule [6] in Stettin einige Jahre später begonnen hätte. Denn diese erfolgreiche Girlband, die temperamentvolle Popmusik mit Jazz- und Rock-Elementen kombinierte, wurde 1959 exakt an dieser Handelsoberschule meiner Mutter, auf Initiative des Lehrers Jan Janikowski, anlässlich ihres 15-jährigen Bestehens gegründet. Man glaubt es kaum, aber dieses Schülerinnen-Ensemble erlangte in den 1960er ganz große Popularität in Polen und im sozialistischen Ausland – noch vor Czesław Niemen oder der Band Rote Gitarren (Czerwone Gitary). Vor einigen Jahren bekamen die Teilnehmerinnen auch Verdienstmedaillen der Stadt.
Ich lasse es mir gut gehen bei dem verrückten Lied der Filipinki „Batumi“ – über die schöne Stadt Batumi und die Teeplantagen in Georgien. Woher nahm die Band dieses etwas exotische Thema? Gute Frage. Jedenfalls ein tolles Lied, voller Fernweh und Lebenslust. Überhaupt ist die Musik dieser Band von Optimismus und Lebensfreude getragen. Das tut gut.
Video: © Brygida Helnig 2025
Und hier das Original der Filipinki aus den 1960er Jahren:

Foto: © privat
Ich treffe hier auch wieder Menschen, die Sie bereits kennen – Monika und Konrad Szymanik von der mobilen Buchhandlung „Mietshaus im Wald“ und den Historiker Michał Paziewski. Ich treffe den Autor Artur Daniel Liskowacki und die Autorin Sylwia Trojanowska (stilistisch unterscheiden sie sich sehr, aber ihr gemeinsamer Nenner ist Stettin und seine deutsche und polnische Geschichte). Mit Artur plaudere ich etwas länger, u.a. über die Stettiner Lyrikanthologie, die er gerade herausgibt. Gerade bin ich dabei, mit seiner Frau Jolanta Liskowacka von der Pommerschen Landesbibliothek nähere Bekanntschaft zu schließen, als mich plötzlich und unerwartet Monika Szymanik und die Radiojournalistin Małgorzata Frymus zur Seite ziehen und entführen. Etwas zögernd lasse ich mich auf das Abenteuer ein, das ihnen vorschwebt. Dann aber geht es schnell.

Foto: © Konrad Szymanik
Mit dem Auto von Małgosia rasen wir über die Oder, auf die Ostseite der Stadt, und dann in das wunderschöne Dorf Strumiany bei Stargard, wo Monika mit ihrer Familie wohnt und wo gerade ein besonderes Event stattfindet, zu dem wir uns diesmal gemeinsam verspäten dürfen. Es werden dort gerade eine Gedenktafel und ein von Studierenden der Kunstakademie Stettin gestaltetes Wandbild am Gemeinschaftshaus (świetlica) enthüllt. All dies geschieht zu Ehren des Künstlerehepaares Joanna und Jan Kulma, das in den Jahren 1961 bis 1996 das Leben der lokalen Gemeinschaft prägte, mit seltenem Engagement und Liebe junge Talente förderte, und mit dem kulturellen Leben Stettins in enger Verbindung stand. Joanna Kulmowa war Dichterin und Autorin von Bühnenstücken. Jan Kulma war Philosoph, Theater- und Fernsehregisseur, Mitbegründer der Warschauer Kammeroper. Und wer wohnt jetzt in ihrem Haus mit der sagenumwobenen Veranda, wo so viele Talente entdeckt wurden? Wer pflegt dort das materielle Erbe der beiden? Natürlich Monika und Konrad Szymanik! Das ist ihr eigentliches Haus im Wald.
An der Zeremonie nehmen einige der Protegés des Ehepaares teil, u.a. die Opernsängerin und künstlerische Direktorin der Kammeroper in Warschau Alicja Węgorzewska, die in ihrem 15. Lebensjahr praktisch in die Familie Kulma aufgenommen wurde. Sie erzählt über ihre Förderer und singt sie für uns auf der Dorfbühne, auch wenn sie Weltbühnen gewöhnt ist. Das Publikum ist gerührt. Man merkt, wieviel das Ehepaar Kulma heute noch für die Dorfbewohner bedeutet. Ein spannendes, schönes Lebenskonzept, das die beiden gelebt haben.

Foto: © Brygida Helbig, 2025
Nun betritt die Literaturwissenschaftlerin und Pädagogin Prof. Urszula Chęcińska von der Universität Stettin die Bühne, die ebenfalls zu den „Zöglingen“ des Ehepaares gehört und nun das literarische Erbe von Joanna Kulmowa erforscht und popularisiert. Denn die ausgezeichnete Dichterin ist (Überraschung!) außerhalb von der Stettiner Wojewodschaft immer noch viel zu wenig bekannt. Hallo Warschau! Wir haben hier auch tolle Leute und wunderbare Geschichten!
Ich glaube langsam, ich habe einen Kleinstadt-Komplex…
[1] Eine Figur aus der deutschen Trickfilmserie „Benjamin Blümchen“, die ich in den 90er Jahren zusammen mit meiner Tochter oft angesehen habe. Die „rasende Reporterin“ ist eine Anspielung auf den „rasenden Reporter“ Egon Kisch (1895-1948).
[2] Für die Stettiner Universität arbeite ich heute noch ab und zu (im Rahmen des Studienfachs Studia pisarskie (Schrifstellerisches Studium).
[3] Brygida Helbig, Romanowi Helbigowi. Zbudował wiele domów, posadził wiele drzew
in: Kurier Szczeciński vom 16.07.2022.
[4] Vor 1945 Falkenwalder Straße.
[5] D.-Koronczewski-Ensemble und das Duo Aleksander Różanek und Krzysztof Baranowski.
[6] Heute: Technikum Ekonomiczne rtm. Witolda Pileckiego (Witold-Pilecki-Fachschule für Wirtschaft), General-Sowiński-Str. 1 (Beruf mit Abitur).
[7] Schallehnstraße.