Wege von Berlin nach Stettin. Begegnung mit dem Verein Städtepartner Stettin e.V.

Mitglieder und Freunde des Vereins Städtepartner Stettin_nach dem Autorenabend

Es ist Spätsommer, die Sonne scheint, der Kaffee duftet, die Möwen schreien, die Tauben turteln, einen schönen guten Morgen, was gibt es Spannendes in Stettin? Natürlich eine ganze Menge. Gott sei Dank gibt es aber vor allem die unsterbliche Tageszeitung Kurier Szczeciński, und das seit 1945. Hier erfahre ich alles. Der Unabhängigkeitstag der Ukraine und ein wichtiges Solidarność-Jubiläum, nämlich der 45. Jahrestag der Unterzeichnung des so genannten August-Abkommens in Danzig und Stettin [1], werden gefeiert. (Ja, Stettin hat in der Solidarność-Bewegung eine bedeutende Rolle gespielt.) Es wird des 86. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges gedacht. Erinnert und gefeiert wird auch die Eröffnung vieler polnischer Schulen vor 80 Jahren in Szczecin. Plakate am Lyzeum Nr. 1 kündigen es an – dort wird das Jubiläum besonders feierlich begangen. Es wird auch der ersten Direktorin und Initiatorin der Schule, Janina Szczerska, gedacht, die allerdings für die Trennung der Bildung nach Geschlechtern war. Das Lyzeum Nr. 1 war zunächst also nur eine Mädchenschule, mein Lyzeum Nr. 2 (1946 eröffnet) eine Jungenschule.

Der Kurier Szczeciński hat aber auch viel Erfreuliches über die aktuellen Investitionen der Stadt zu berichten: über die Modernisierung der Reparaturwerft Gryfia, die kräftig voranschreitet, über den Offshore-Windpark an der Ostsee, der bald schon die Bevölkerung mit Energie versorgen soll. Das sei dem Stadtpräsidenten besonders wichtig. Eine Stadtbahn wird in Stettin gebaut, die die Stadt u. a. mit Goleniów und Gryfino verbinden soll. Das erfahre ich allerdings nicht aus der Zeitung, sondern von sehr gesprächigen Taxifahrern in Stettin auf der Mieszko-I-Straße, wo eine S-Bahn-Station entsteht. Geplant ist auch der Bau eines riesigen Handelszentrums am Rande von Stettin, kurz vor der Grenze zu Deutschland. Dazu wird vielleicht sogar die Straßenbahnlinie von Stettin bis nach Mierzyn verlängert. Doch das soll alles noch dauern.

Aber auch in der Kulturszene passiert viel Aufregendes. Eine Auseinandersetzung um das Theater Teatr Współczesny nimmt gerade Fahrt auf. Wegen einer notwendigen Renovierung des Nationalmuseums, wo es bisher untergebracht war, soll das ambitionierte Theater langfristig auf die Insel Łasztownia (Lastadie) verfrachtet werden. Bevor das passiert, muss es aber eine provisorische Bleibe (leider für mehrere Jahre) suchen. Währenddessen zeigt das Theater Teatr Polski, wie Stettin zu Szczecin wurde, in den Filialen der Stadtbibliothek werden Lesungen zu Memoiren der Stettiner Ansiedler der 1940er und 50er Jahre veranstaltet. Das große Turnier der Tenöre und das Festival der jüdischen Musik steht an, bei dem auch ein Freund von mir, der Tenor Wojciech Parchem (der u. a. an der Hans-Eisler-Hochschule studierte), mitmacht. Und – ein wunderbares Musikfestival in der Philharmonie erwartet uns: Turniej Muzyków Prawdziwych. Daran nehme ich sogar teil und werde darüber noch berichten.

Heute will ich nur von einem besonders schönen Abend erzählen, den ich mit den Mitgliedern und Freunden des Vereines Städtepartner Stettin e. V. verbracht habe, auf Einladung von Maciek Luszczynski-Lempka. Maciek hat die Entstehung einer informellen Stettiner „Filiale“ dieses in Berlin eingetragenen Vereins initiiert.

Wie kam es dazu, dass der Verein mit heute ca. 200 Mitgliedern [2] 1997 überhaupt gegründet wurde? Zwischen Stettin und Berlin-Kreuzberg (später Friedrichshain-Kreuzberg) besteht seit 1996 eine Städtepartnerschaft. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, diese Partnerschaft zu intensivieren. Auf seiner Internetseite [3] finde ich einen lesenswerten Blog über die Sehenswürdigkeiten und die Geschichte der Stadt. Jeder ist zur Mitarbeit am Blog eingeladen.

Stettin und Berlin liegen so nah beieinander und sind sich doch immer noch so fern. Der Verein will das ändern, vor allem durch gemeinsame Aktivitäten, die wiederum gemeinsame Erlebnisse, Erinnerungen, Geschichten und langfristig vielleicht auch Identitäten generieren. Spaziergänge, Reisen, Begegnungen und Workshops werden organisiert. In Berlin gibt es schon seit langem einen Stammtisch, mittlerweile trifft man sich eben auch in Stettin. Zu einem solcher Treffen (es ist erst das fünfte) wurde ich eingeladen, um über meine Tätigkeit als Stadtschreiberin und über meine Bücher zu erzählen.

Das Lokal unserer Wahl war das Restaurant Kresowa in der Wojska-Polskiego-Allee und ich freute mich schon auf das Essen aus den ehemaligen Ostgebieten Polens (Kresy). Es gab aber ein Missverständnis, denn das Restaurant war zu, und so mussten wir bei heftigem Regen erst warten und dann ein anderes Etablissement suchen. Aber alles Schlechte hat auch was Gutes. Auf der Suche nach einer alternativen Location haben wir einen kleinen Spaziergang und uns schon mal miteinander warm gemacht. Unterwegs hat uns der Stettiner Reiseführer Michał Rembas ein bemerkenswertes Relief mit dionysischen Motiven an der Fassade der zur Stettiner Universität gehörenden Villa „Westend“ (gebaut in den 1870er Jahren im Stil der Neorenaissance) gezeigt und auf Details hingewiesen. Wie ich später erfahre, sind alte Stettiner Mietshäuser und Villen seine „Spezialität“. Aber auch Friedhöfe interessieren ihn, vor allem der Zentralfriedhof in Stettin aus deutscher Zeit. Zusammen mit Ewa Maria Slaska hat er ein Buch über Stettiner Grabsteine in Berlin und Berliner Grabsteine in Stettin herausgebracht – Nie umarłem. Ich bin nicht tot (2017).  Ewa Kargol kenne ich aus Berlin. Sie pendelt zwischen den beiden Städten und schreibt gerne über Stettin (Blog, Beiträge für social media). Die Reiseführerin Dorota Pundyk konnte leider nicht kommen. Sie ist Spezialistin für Johannes Quistorp, hat mit seinen Nachfahren noch Kontakt und hält noch Überraschungen und Neuentdeckungen für uns bereit. 

Wir landen im Café Artisan auf der anderen Seite eines der sternenförmigen Rondells – dem Szarych Szeregów-Platz, den ich aus meiner Kindheit als Lenin-Platz in Erinnerung habe. Auf einer Seite dieses Platzes werden seit Jahrzehnten Blumen auf der Straße verkauft, darauf kann man sich verlassen. Und auf einer anderen geht es zur 5 lipca-Straße zum ehemaligen großen Kultkino der Nachkriegszeit – Collosseum, das in der ehemaligen Turnhalle des Stettiner Turnverein 1945 eröffnet wurde und, wie das Kino Kosmos, nach der Systemtransformation erst privatisiert, und dann geschlossen wurde.

Mitglieder des Vereins Städtepartner Stettin e V beim Autorenabend. Foto: © Brygida Helbig
Mitglieder des Vereins Städtepartner Stettin e.V. beim Autorenabend
Foto: Anna Nieściur

Im Artisan ist es schön, auch wenn der Kellner erstmal etwas überfordert zu sein scheint von unserer geselligen Truppe. Aber er ist flexibel, lässt uns in das geräumige, modern eingerichtete Café ein, und die Lesung kann beginnen – auch wenn ich nicht lesen werde, sondern reden, wie es auf polnischen „Lesungen“ ziemlich üblich ist.

Es gibt auch unerwartete Gäste – plötzlich steht Krzysztof Niewrzęda im Raum, der Autor des historischen Romans Confinium über Stettin/Szczecin im Jahr 1946 (leider noch nicht ins Deutsche übersetzt). Er wird mit Applaus begrüßt. Es erscheint auch der Maler Jaroslaw Eysymont, der u. a. Stettin malt, auch von der Hinterhofseite … Das Interesse für die deutsch-polnischen Themen, die ich in meinen Büchern berühre, ist an diesem Abend groß, insbesondere für die Galiziendeutschen und die Josephinische Kolonisation, die die Rheinländer nach Galizien gebracht hat. [4] Die Gäste wollen auch mehr über die DDR und die Auswirkungen der Wende auf die Ostdeutschen wissen. [5] Und über die Funktion der Stadtschreiberin, die in Polen weniger bekannt ist.

Das nächste Treffen soll im Kasprowicz-Park stattfinden, in einem Restaurant am Amphitheater. Es ist geplant, dort gemeinsam am Feuerchen zu sitzen und weitere Pläne zu schmieden – klingt verlockend. Bevor wir uns trennen, unterschreibe ich noch eine Petition des Vereins. Es geht um die bereits erwähnte, hinkende Bahnverbindung zwischen unseren Lieblingsstädten. Aber ich will nicht nerven. Hoffentlich berichtet der Kurier Szczeciński bald über Erfolge.

In meiner Stadtschreiber-Wohnung angekommen (und von Artisan habe ich es nicht weit), klappe ich mein Laptop auf – mein Postfach ist voll. Neue Informationen über Stettin kommen von Freunden, Bekannten und Interessierten, z. B. über die Geschichte des deutschen Stettiner Yachtclubs (1877-1937), dessen Sitz zum Ursprung des polnischen Stettiner Seglersports (Marina Gocław) wurde. [6] Und noch eine Nachricht: Eine große Kajak-Tour zwischen Berlin und Stettin, von der Zitadelle Spandau bis zum Dammschen See, organisiert vom Segler Zentrum Stettin, wurde gerade beendet. Viele junge Leute haben in acht Tagen 176 Kilometer im Kajak zurückgelegt. Das ist natürlich auch eine Möglichkeit.

Vor dem Hutladen in der Getta-Warszawskiego-Straße
Vor dem Hutladen in der Getta-Warszawskiego-Straße
Foto: Veiko Boden

Zeit ins Bett zu gehen. Morgen früh werde ich wieder von putzmunteren Vögeln begrüßt. Bei meinem Spaziergang werde ich an kleinen alten Souterrain-Läden vorbei gehen, einem Hutladen, einem Lampenladen. Leider auch an mehreren Mülltonen, die direkt auf dem Bürgersteig stehen – eine Ausnahme in dieser schönen Stadt. Das gefällt mir nicht so gut, aber einer großen Möwe, die hier jeden Morgen speist, schon.


[1] Diese Abkommen von 1980 führten zur Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność. Sie waren ein historischer Durchbruch, da sie erstmals in einem sozialistischen Land die Bildung einer freien Gewerkschaft erlaubten und den Beginn demokratischer Veränderungen in der kommunistischen Ära markierten.

[2] Die aktuelle Vorsitzende ist Ewa Dąbrowska.

[3] www.staedtepartner-stettin.org

[4] Darüber schreibe ich in meinem Roman Niebko (in deutscher Übersetzung Kleine Himmel).

[5] Das war das Thema meines Erzählbandes Enerdowce i inne ludzie (in deutscher Übersetzung Ossis und andere Leute.

[6] Der Stettiner Yacht-Club wurde 1937 von der Marine Hitlerjugend übernommen. Auf der Internetseite des Nachfolgeclubs in Lübeck wird berichtet:

„Die meisten Boote stehen noch an Land, als in den letzten Kriegstagen die russische Armee Stettin besetzt. Nur drei Boote können unter abenteuerlichen Umständen nach Westen fliehen (…). Die meisten der übrigen Boote werden im Herbst 1945 auf ein Schwimmdock verladen und in die Sowjetunion transportiert. Clubhaus und Clubhafen bleiben fast unbeschädigt.“
Quelle: www.styc.de.

Siehe auch: Piotr Owczarski (Hrsg.): Leksykon żeglarstwa i sportów wodnych Pomorza Zachodniego, Szczecin 2017. 

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