Ein Mietshaus im Wald. Schätze einer Stettiner Buchhandlung in der Pocztowa 19

Buchhandlung »Kamienica w lesie« (Mietshaus im Wald). Foto: © Brygida Helbig, 2025

Ich tauche immer tiefer in die Geschichten der Stadt ein. Ich bin immer mehr da. Ich versuche nicht mehr nur durch die Stadt zu rasen, um etwas zu erledigen, sondern auch mal auszusteigen, stehen zu bleiben. Einzutauchen in das, was ist. Und dann passiert etwas Seltsames. Ich sehe Sachen, die ich nie wirklich gesehen habe, obwohl ich sie gesehen habe. Ich sehe Menschen, die ich nie wirklich kennengelernt habe, obwohl ich sie kennengelernt habe. Ich versuche, alles neu zu sehen, als ob ich erst gestern zur Welt gekommen wäre. „Alles glänzt so schön neu“, wie der Berliner Hip-Hop-Musiker Peter Fox mal gesungen hat.

Diese Woche habe ich nicht zum ersten Mal, aber wie zum ersten Mal, einen der zauberhaftesten Orte in Stettin gesehen. Es war „magisch“ würde ich sagen, wenn das Wort nicht schon so abgegriffen wäre.

Schaufenster der Buchhandlung »Kamienica w lesie«. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Schaufenster der Buchhandlung »Kamienica w lesie« Foto: © Brygida Helbig, 2025

Zusammen mit meiner Tochter Justina, der Mitautorin unseres gemeinsamen Romans „Im Namen der Mutter und der Tochter“ [1], hatte ich eine Lesung in einer der wohl kleinsten Buchhandlungen der Welt – der Buchhandlung mit dem ungewöhnlichen Namen „Mietshaus im Wald“. Auf Polnisch heißt sie Kamienica w lesie, wobei das Wort kamienica etwas mit Stein (kamień) zu tun hat. Wörtlich übersetzt heißt es eigentlich nicht Mietshaus, sondern Steinhaus.

Wie dem auch sei, das Haus ist nicht nur eine der ungewöhnlichsten Buchhandlungen, die ich kenne, auch ihre Inhaber gehören zu den ungewöhnlichsten Menschen, die mir begegnet sind – natürlich im positiven Sinne. Monika und Konrad Szymanik arbeiten mit so viel Leidenschaft und Power, dass ich sie mir als leuchtendes Beispiel dafür nehme, was passieren kann, wenn man aufs Ganze geht und alle Zweifel hinter sich lässt.

Aber bevor ich mehr von ihnen erzähle, schauen wir uns die Straße an, in der sich die Buchhandlung befindet. Es ist die Ulica Pocztowa (Poststraße) [2]. Diese Straße im Bezirk Śródmieście (Stadtmitte), unweit vom ehemaligen Basar und heutigem Shopping-Center Turzyn sowie der Kreuzung Krzywoustego (Krzywoustystraße) [3] und Bohaterów Warszawy (Straße der Helden Warschaus) [4] ist mir nicht fremd. Sie ist mir aus persönlichen Gründen sogar ziemlich vertraut, auch wenn ich sie schon lange nicht mehr betreten habe.

Bleiben wir erstmal bei einem sehr besonderen, wohl noch nicht renovierten Haus in der Pocztowa 31-33 kurz stehen. Es wurde Anfang des 20. Jhs. gebaut, im eklektischen Stil mit Elementen des Jugendstils und der Neugotik. Durch seine besondere Form hebt sich das einzelnstehende Gebäude stark von den umgebenden Mietskasernen ab. Es diente wohl schon vor dem Krieg öffentlichen Zwecken und so ist es auch geblieben.

Hier befindet sich (seit den 60er Jahren) der Sitz der Musikschule [5], in der ich als Kind Klavierspielen gelernt habe, auch wenn ich anfangs nicht zu glauben wagte, dass es überhaupt möglich ist, mit beiden Händen gleichzeitig zu spielen. Trotz meiner anfänglichen Skepsis bin ich zweimal in der Woche fleißig den Weg zur Musikschule gelaufen bzw. gefahren (mit der Straßenbahn). Auf die Häuser, die hier damals alle grau und zum Teil heruntergekommen waren (einige sind es heute noch), habe ich damals nicht geachtet, bin schnurstracks meinem Ziel entgegengestrebt. Klavierspielen lernte ich gern, auch wenn die Lehrmethoden damals nicht unbedingt im heutigen Sinne kinderfreundlich waren. Ich wollte aber ein wenig wie Klara Schuhmann sein, deren Biographie [6] und deren Talent mich mit meinen dreizehn Jahren schwer beeindruckten, und so nahm ich den Weg über die etwas düstere Pocztowastraße und die mühsamen Übungen auf mich. Meine Lehrerin, Frau Z., heute fast einhundert Jahre alt, hat sich übrigens kürzlich noch bei mir gemeldet – das hat mich sehr berührt. Sie hat damals meine Liebe zum Klavierspiel gesehen und wir kamen ganz gut miteinander aus. Noch mehr liebte ich aber die Literatur und wählte schließlich diesen Weg für mich. Ja, auch Monika Szymanik ist ihrer Liebe gefolgt, und zwar noch konsequenter und zügiger als ich, als die meisten von uns.

Aber nun zurück zum „Mietshaus im Wald“ in der Pocztowa 19, schräg gegenüber der modernistischen Andrzej-Bobola-Kirche [7], in der auch so manches Ereignis im Leben meiner Familie zelebriert wurde.

Alte deutsch beschriftete Kaffeemühlen in der Buchhandlung »Kamienica w lesie«. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Alte deutsch beschriftete Kaffeemühlen in der Buchhandlung »Kamienica w lesie«
Foto: © Brygida Helbig, 2025

Warum eigentlich solch ein ungewöhnlicher Name der Buchhandlung? Das Haus steht doch mitten in der Stadt und nicht im Wald. Nun ja, der Name klingt zunächst absurd, doch was passiert, wenn wir den Assoziationen freien Lauf lassen? Vielleicht könnte das Haus in einem Wald voller Ideen und Visionen von Monika Szymanik und ihrem Mann Konrad stehen? Die Buchhandlung macht ja den Eindruck, als ob sie aus der Mitte ihrer Träume gewachsen wäre, wie eine mystische Blume. Das könnte eine der poetischen Erzählungen von Monika sein, einer begnadeten Buchliebhaberin, die für jeden Besucher ein herzliches Lächeln und eine Geschichte parat hat. Mit diesem Namen haben Monika und Konrad weit entfernte Bereiche miteinander zu verbinden gewusst. Besonders kreative Menschen setzen oft Ungewöhnliches zueinander in Beziehung, zum Beispiel: Wald und Mietshaus (Natur und Kultur), Buchhandlung und Fleischerei (Heiliges und Profanes), Deutsch und Polnisch (Vergangenheit und Gegenwart, Alt und Neu), Arbeit und Freude (Pflicht und Kür).

Wie Monika, studierte Germanistin und Deutsch-Lehrerin, auf Instagram und in ihren Büchern erzählt, entstand der paradox anmutende Name der Buchhandlung einerseits als Ausdruck ihrer Liebe zu alten Mietshäusern in Stettin und deren Vorkriegs- und Nachkriegsgeschichten, andererseits als Ausdruck ihrer besonderen Affinität zur Natur. Unter diesem Namen entstand zunächst ein Café mit Büchern (eröffnet im Jahr 2020), dann eine Buchhandlung. Und das in einer ehemaligen Fleischerei, die mit Stil, Geschmack und Wärme, mit Respekt für das Alte, für die unter dem Putz versteckten Schätze liebevoll eingerichtet wurde.

Alte Fliesen in der Buchhandlung »Kamienica w lesie«. Foto: © Brygida Helbig, 2025
Alte Fliesen in der Buchhandlung »Kamienica w lesie«.
Foto: © Brygida Helbig, 2025

Das Mietshaus wurde 1905 gebaut und war fast durchgehend eine Fleischerei – erst in deutschen Händen, dann, nach dem Krieg (ab 1948 bis in die 70er Jahre hinein) in polnischen. Fotos an den Wänden erzählen Geschichten von Menschen, die diesen Ort gestaltet haben. Aber nicht nur Fotos, auch die Wände selbst erzählten sie, der Fußboden erzählte… Als Monika, kurz nachdem sie ihren ersten beeindruckenden Bildband über die Mietshäuser in Stettin publiziert hat [8], per „Zufall“ diese Räumlichkeiten entdeckte und die Renovierungsarbeiten beginnen konnten, eröffnete sich vor ihr und ihrem Mann Schicht für Schicht das Vorleben dieses Raumes. Über 100 Jahre alte, nach dem Krieg übermalte Wand- und Bodenfliesen wurden offengelegt und begannen zu sprechen. Aufschriften an den Wänden ebenso. Was sagten sie? Zum Beispiel den alten Spruch: Ohne Fleiß kein Preis.

Ja, das mit dem Fleiß und Preis bestätigt sich hier insofern, als Monika und Konrad an Fleiß kaum zu überbieten sind. Jetzt verkaufen Sie ihre Bücher nicht nur in ihrer Buchhandlung, sondern auch in der gesamten Region, in einer fahrenden Buchhandlung, heute z. B. in Kołobrzeg (Kolberg). Monika ist Meisterin im Buch-Verkauf, da man ihr die Begeisterung wirklich abnimmt. Ihre Energie ist ansteckend und erfrischend, gerade in der heutigen Zeit, in der uns die Medien-Nachrichten selten ein Lächeln ins Gesicht zaubern.

Der Erfolg, der sich in den knapp fünf Jahren des Bestehens der Buchhandlung einstellte, ist unglaublich. Das Ehepaar verkauft die Bücher nicht nur, sondern gibt sie auch heraus. Mittlerweile erschien Monikas zweiter Fotoband [9] über die Mietshäuser Stettins in den vier Jahreszeiten (auch hier die Verbindung von Natur und Kultur!), und ein berührendes Erinnerungs-Buch der deutschen Stettinerin Christel Schubert – „Eine Kindheit in Stettin“ [10].

Zu unserer Lesung kommen einige einfühlsame, Bücher liebende Menschen – eine kleine Gruppe von wirklich Interessierten. Wir haben Glück – die Moderation übernimmt Inga Iwasiów, Professorin an der Universität Stettin und hervorragende Schriftstellerin, deren Roman „Bambino“ ebenfalls von der Stadt Stettin und den bewegenden deutschen und polnischen Schicksalen erzählt.

Und wenn ich schon bei der Literatur bin. Aus Anlass des 80-jährigen Bestehens des polnischen Stettins (Szczecin) hat die Stadt einen Wettbewerb ausgeschrieben. Das beste Stettiner Buch der letzten 80 Jahre soll ausgezeichnet werden. Nominiert sind natürlich viele wertvolle Bücher, u. a. eben Iwasióws Bambino, aber auch der große Stettinroman Confinium von Krzysztof Niewrzęda (über Stettin in den Jahren 1945 und 1946) und der legendäre Roman Eine kleine von Artur Daniel Liskowacki (über die deutschen Stettin-Bewohner, die die Stadt verlassen mussten). Nominiert wurde auch mein Roman Niebko (Finalist des NIKE-Preises von 2014), den es auch in Deutsch unter dem Titel Kleine Himmel [11] gibt. Für Monika ist nichts unmöglich, deshalb hat sie die wenigen Exemplare von Niebko, die es noch gibt, extra für die Lesung auf verschiedenen Internetportalen aufgetrieben.

Die Begegnung mit den Leserinnen und Lesern, mit denen wir uns noch lange nach der Beendigung des offiziellen Teils des Abends unterhalten, ist herzerwärmend. Ich knüpfe neue Bekanntschaften und vertiefe alte. Es gibt auch eine Überraschung. Ein Schulfreund von mir erscheint, den ich seit 1978 nicht mehr gesehen habe. Hier passieren wirklich Wunder, und ich bin motiviert meinen Weg konsequent weiter zu gehen – wie Monika, wie Klara.

Als ich zwei Tage danach nochmal über die Pocztowastraße laufe, treffe ich dort auf die Fronleichnams-Prozession an der Bobola-Kirche, sehe Kinder, die Blüten auf die Pocztowastraße streuen. Vielleicht erfasse ich die Symbolik dieses Rituals, das zwei Wochen nach Pfingsten stattfindet, nicht ganz, auch wenn ich selbst als Kind an diesem Feiertag mit Hingabe Blüten gestreut habe, aber …  Nun ja, ich glaube, das Wort kann zum Leib werden, die Idee kann sich materialisieren, das Materielle kann mehr oder weniger beseelt sein. Auf jeden Fall sind Wände, Gegenstände und Bücher in der Pocztowa 19 beseelt, von den Menschen ganz zu schweigen. Da ist ein Geist drin, vielleicht kein heiliger, vielleicht aber doch.


[1] Der Roman ist bislang nur in polnischer Sprache erschienen unter dem Titel W imię matki i córki, erschienen im WAB-Verlag, Warszawa 2025

[2] Vor dem Krieg Gabelsbergerstraße

[3] Vor dem Krieg Hohenzollernstraße

[4] Vor dem Krieg Mackensenstraße

[5] Die Musikschule hieß früher Ognisko Muzyczne. Heute wird sie von derStettiner Gesellschaft für künstlerische Bildung betrieben (Szczecińskie Towarzystwo Kształcenia Artystycznego Społeczne Szkoły Muzyczne I i II stopnia)

[6] Elisabeth Kyle, Duet. Opowieść o Klarze i Robercie Schuhmannach, Warszawa 1971 (Englischer Originaltitel: Duet. The Story of Clara and Robert Schumann). Die polnische Fassung dieses biographischen Romans hat mir damals meine Mutter geschenkt

[7] Die Kirche wurde vom deutschen Architekten Adolf Thesmacher entworfen und Anfang der 30er Jahre gebaut

[8] Monika Szymanik, Instagramowe wędrówki szczecinianki, Szczecin 2019

[9] Monika Szymanik, Kamienica w lesie. Pocztowa 19, czyli ukryte skarby Szczecina, Szczecin 2023

[10] Christel Schubert, Eine Kindheit 1935 – 1949, Szczecin 2024

[11] Brygida Helbig, Kleine Himmel, Berlin 2019, übers. von Natalie Buschhorn

2 Gedanken zu „Ein Mietshaus im Wald. Schätze einer Stettiner Buchhandlung in der Pocztowa 19“

  1. Und wieder ein hinreißender Beitrag!
    Bin schon so gespannt auf Stettin.
    Beabsichtige die Stadt im August zu besuchen und auf Pfaden zu schlendern die du so hingebungsvoll beschreibst!

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