Auf der Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag im Skandinavischen Haus (v.l.n.r.): Sylwia Wesołowska (Pommersche Bibliothek), Stadtschreiberin Brygida Helbig, Magdalena Gebala (Deutsches Kulturforum östliches Europa) und Stadtpräsident Piotr Krzystek
Foto: © Urząd Miasta Szczecin
Nicht jeden Tag wird man zu einer Kaffeerunde mit dem Stadtpräsidenten (Oberbürgermeister) eingeladen. Ich hatte letzte Woche die Ehre. Man hat mich zu einem Gespräch mit Herrn Piotr Krzystek und seinen Mitarbeiterinnen – der Bürodirektorin Agnieszka Gardocka und der Leiterin der Abteilung für internationale Zusammenarbeit Anna Szlesińska – eingeladen, und auch zur Pressekonferenz. Und zwar in eine ganz besondere Lokalität: ins wunderschöne Skandinavische Haus. Und so habe ich sozusagen aus erster Hand viel Neues über Stettin, und insbesondere seine Beziehungen zu den nordischen Nachbarn erfahren.
Das Haus befindet sich unweit der Stadtschreiber-Wohnung, im Bezirk Śródmieście [1], in einem über hundert Jahre alten, liebevoll restaurierten Mietshaus in der Monte Cassino-Straße 6. Wir sind mitten im Herzen der Stadt, direkt am Plac Odrodzenia [2]– einem dieser Rondelle (Kreisverkehr) mit strahlenförmig darauf zulaufenden Straßen, die typisch für Stettin sind und an Paris denken lassen. Die umliegenden Straßen erinnern mich aber auch an Prenzlauer Berg, die Mietskasernen sind nur ein Stockwerk niedriger. Zwischen alten Mietskasernen und Nachkriegsbauten findet man kleine Läden und gemütliche Cafés.

Foto: © Brygida Helbig, 2025
Aber was ist überhaupt das Skandinavische Haus, das mich sofort durch seine Modernität und Eleganz, aber vor allem durch seine beruhigende, gemütliche Atmosphäre (helles Holz, Leinenstoffe, viel Licht, Charme des Unperfekten) sofort in seinen Bann zieht? Von Frau Szlesińska habe ich erfahren, dass es ursprünglich IKEA gehörte und Dom Jutra (Haus der Zukunft) hieß. Es diente als Experimentierfeld für innovatives, nachhaltiges Wohnen, als Modellhaus, das die Zukunftsvision des Wohnens (mit funktionalen Einrichtungslösungen und umweltfreundlichem Design) präsentierte, aber auch als ein Ort für Workshops und Treffen. Im Mai 2021 übergab IKEA das Gebäude der Stadt Stettin im Rahmen der Eröffnung der Skandinavien-Tage, die nun jedes Jahr im Mai in Stettin gefeiert werden.

Das Haus dient heute als Zentrum für kulturelle, wissenschaftliche, diplomatische Aktivitäten. Hier finden Konferenzen, Ausstellungen, Workshops statt, z.B. solche, die sich mit Ökologie und dem grünen Stettin befassen. Die Räume sind aber für verschiedene Initiativen aller Bürger offen. Das Haus strahlt Wärme aus, genauso wie seine Mitarbeiterinnen. Es ist wirklich ein Zuhause, das den Großstadttrubel vergessen lässt. Und üppig begrünt ist es auch.
Stettin, so erfahre ich von Präsident Krzystek, hat durch seine geografische Lage und historische Verbindungen eine ganz besondere Bedeutung für Skandinavien. Skandinavische Unternehmen, vor allem dänische, sowie viele Studierende und Touristen aus nordischen Ländern prägen die Stadt. Besonders stolz ist der Präsident auf die Rolle Stettins in der Offshore-Windenergie, einem zukunftsweisenden Thema, das hier zunehmend an Bedeutung gewinnen würde.
Ich selbst kenne mich leider nicht besonders gut mit den nordischen Kulturen aus. Als Kind liebte ich die schwedische Gruppe ABBA, die wir hier genauso vergötterten wie im Westen. Und Ende der 70er Jahre wurde uns Stettiner Schülerinnen und Schülern sogar eine Klassenfahrt nach Ystad angeboten (viele Väter meiner Klassenkameraden waren Matrosen) – doch leider habe ich diese Gelegenheit verpasst. Bereits damals war unsere Hafen-Stadt ein weltoffener Ort, und diese Weltoffenheit wird weiter gepflegt.
Präsident Krzystek erzählt mir noch, dass der wirtschaftliche Austausch mit Deutschland für Stettin ebenfalls von Bedeutung ist, obwohl die Region, die an die Stadt grenzt, nicht die wirtschaftlich stärkste ist. Dennoch gäbe es hier viele Menschen, die grenzüberschreitende Kooperationen fördern. Tatsächlich, ich selbst kenne einige, zum Beispiel die Kommunalpolitikerin Katarzyna Werth in Löcknitz oder die engagierte Ärztin Dr. Elżbieta Hempel in Pasewalk. Viele Stettiner, insbesondere Ärztinnen und Ärzte, pendeln täglich nach Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg zur Arbeit, oder sie leben dort und arbeiten in Stettin. Diese grenzüberschreitenden Beziehungen tragen sicherlich dazu bei, das Bild der Region Stück für Stück zu verändern, vielleicht sogar irgendwann die polnische und die deutsche Grenzregion wirklich zusammenzuschweißen.
Als ich nach der Bahnverbindung zwischen Berlin und Stettin frage, die seit einigen Jahren nicht wirklich funktioniert, weiß der Präsident, dass dieses Thema gelöst werden muss. Wir brauchen, so meine Meinung dazu, sowohl eine schnelle Verbindung zwischen den beiden Großstädten als auch eine, die die kleineren Orte entlang der Strecke mitnimmt. Dieses Thema wird mich während meiner Residenz-Zeit wohl nicht loslassen und da spreche ich nicht nur für mich, sondern auch für andere Berliner, die zum Beispiel gerne mal eben ein Konzert in der Stettiner Philharmonie besuchen würden.

Foto: © Dom Skandynawski/Scandinavian meeting point
Stettin habe auch historisch gesehen viel zu bieten, fährt Präsident Krzystek fort, und er kann wirklich gut erzählen! Eine besonders interessante Facette seiner Geschichte sei die Industrie. Stettin sei schon vor dem Krieg ein bedeutender Industriestandort gewesen – nicht nur in der Schiffs-, sondern auch in der Automobilproduktion. Viele wissen gar nicht, dass hier vor dem Krieg auch Autos gebaut wurden. Das Museum für Technik und Kommunikation zeigt seit einigen Jahren Fahrzeuge und andere Produkte des früheren Herstellers Stoewer [3], die die Stadt von dem in Stettin geborenen Sammler Manfried Bauer aus Hessen gekauft hat. Ja, da gehe ich auf jeden Fall hin.
Stettin habe aber auch außergewöhnliche, engagierte Bewohner mit sehr bewegter Geschichte, betont Präsident Krzystek. Nachdem die Deutschen nach dem Krieg und der von den Siegermächten beschlossenen Westverschiebung Polens die Stadt verlassen mussten, kamen kriegsgebeutelte, aber auch mutige Menschen aus allen möglichen Regionen Polens hierher, vor allem diejenigen, die ihre ostpolnische Heimat an die Sowjetunion verloren haben, aber auch aus Großpolen oder Zentralpolen. Nun ja, und wie man weiß, haben sie auch ihre Dialekte mitgebracht, aber auch schnell wieder „verlernt“, um sich nicht zu verraten. Sie haben hier nur Hochpolnisch gesprochen – das „hochpolnischste“, „reinste“ Hochpolnisch, das es gibt. Was natürlich auch etwas schade ist. Aber auch dafür steht Stettin.
Sie mussten sich hier unter anfangs sehr unsicheren Bedingungen ihre Existenz aufbauen, in der neuen, verwüsteten Umgebung. Insofern verstanden sie sich als Pioniere im „Wilden Westen“, die sich den fremden Raum zu Eigen machen mussten. [4] Und vielleicht war es auch kein Zufall, dass gerade der „Western“ die Lieblings-Filmgattung meiner Eltern war – ein Genre, das von der Besiedlung des amerikanischen Westens im 19. Jahrhundert erzählt. (Auch wenn der historische Kontext natürlich ein ganz anderer war.) Zur Geräuschkulisse meiner Kindheit gehörte jedenfalls nicht nur das Möwengekreisch, sondern auch der Titelsong der berühmten 60er-Jahre-Serie Bonanza, die auch im polnischen Staatsfernsehen lief. Die Stadt Stettin, die damals noch als ziemlich gefährlicher „wilder Westen“ galt, war ein Ort des Aufbruchs, des Wandels. Und sie will das auch heute noch sein – das ist deutlich zu spüren.
Zum Schluss kommen wir noch auf das berühmteste Kino der Stadt – das „Pionier“ zu sprechen, welches als das älteste in Europa gilt. Hier sollen nicht nur wertvolle Filme gezeigt werden, es soll sich auch zum einem Ort der kulturellen Bildung im filmischen Bereich entwickeln. Präsident Krzystek macht mich auf die Krimi-Serie Odwilż (The Thaw) aufmerksam, die in Stettin spielt und die besondere Stimmung der Hafenstadt an der Oder einfängt. Das Problem ist, ich mag keine Krimis.
Ja, die Oder, das Wasser… Ich müsse Stettin unbedingt auch von der Wasserseite, sprich seiner Schokoladenseite kennenlernen.. Und im Norden der Stadt auf den Bismarck-Turm steigen. Eins steht schon mal fest – langweilen werde ich mich hier nicht.
Nach der Pressekonferenz mit Frau Magdalena Gebala vom Deutschen Kulturforum östliches Europa und Frau Sylwia Wesołowska von der Pommerschen Bibliothek sowie natürlich den freundlichen Stettiner Journalisten bin ich richtig energiegeladen und drehe beherzt zwei Runden im Kreisverkehr. Als ob sich nicht alles sowieso schon in meinem Kopf drehen würde. So viele Inspirationen und Ideen!

Foto: © Brygida Helbig, 2025
Zum Schluss noch ein kurzer Abstecher zu IKEA, das seit vier Jahren in Stettin steht und das auch für die Löcknitzer eine bequeme Alternative zu den weiten Wegen nach Berlin bietet. Manche sitzen hier mit ihren Laptops und arbeiten, manche kommen nur, um zu Mittag zu essen oder Kaffee zu trinken – eine etwas andere Atmosphäre als in den IKEA-Häusern in Deutschland. Ich setze mich ans Fenster und genieße nicht nur den Blick von oben auf den riesigen Parkplatz und auf andere Einkaufs-Giganten, sondern auch die Gemüsebällchen (Plantbullar oder klopsiki roślinne), die hier genauso schmecken wie in Berlin.
Paradox – ein skandinavisches Zuhause auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze.
[1] Stadtmitte
[2] Platz der Wiedergeburt
[3] Die Geschichte der Stoewer-Werke und des Sammlers Manfried Bauer erzählt Markus Nowak in dem Artikel Stoewers »Rückkehr« nach Stettin, der 2020 in der September-Ausgabe der Zeitschrift KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa erschien.
[4] Dazu gibt es ein tolles Buch von Beata Halicka: Polens Wilder Westen: Erzwungene Migration und die kulturelle Aneignung des Oderraums 1945 – 1948. Paderborn 2013.