Verleihung des Künstlerischen Preises von Stettin – Gala, Stadtballaden, Kulinarisches

Das »Pleciuga«-Theater. Foto: © Brygida Helbig, 2025

Es ist später Nachmittag, ich sitze in einem meiner Lieblingscafés mit dem schönen Namen Fanaberia (Kapriole), eigentlich einem Teeladen in der Herzog-Boguslaw-Fußgängerzone Deptak Księcia Bogusława. [1] Ich schaue aus dem Fenster, trinke einen von den außergewöhnlichen Tees, die man hier bekommen kann, einen Rosmarin-Orange-Nelken-Zimt-Tee. Ja, es ist zwar Sommer, gerade wurde in Stettin bei großer Hitze ausgiebig die Sommersonnenwende (Noc Kupały) gefeiert, dennoch ist es heute sehr windig, ja geradezu stürmisch. Ohne Jacke komme ich jedenfalls nicht aus. Falls man sich allerdings aufwärmen möchte, kann man hier auch Schokolade trinken, die auch wirklich nach Schokolade schmeckt.

Die freundliche Kellnerin fragt, ob „wir“ noch etwas Süßes essen wollen. Mit „wir“ meint sie mich und sie, sagt es mit Augenzwinkern. Ach nein, wollen wir heute nicht. Am Nebentisch sitzt ein etwas älterer Deutscher mit Rucksack. Die junge Kellnerin hat gerade versucht, ihm auf Englisch zu erklären, wie man seinen Tee richtig aufgießt. Leider versteht er sie nicht, antwortet auf Deutsch, er hätte gedacht, sie spricht Deutsch. Ich frage mich, ob ich einspringen soll, widerstehe aber der Versuchung und lasse den Dingen ihren Lauf. Die beiden lachen.

Der Mann schaut sich neugierig um, fasst vorsichtig die dekorativen Tassen in den Regalen an, schaut etwas verstohlen zu mir und fragt sich vielleicht, warum ich ständig etwas fotografiere. Er liest Infobroschüren und genießt wohl, wie ich, die besondere Atmosphäre – die Düfte, die Dekoration, das Porzellan, die Kissen, die diskrete Musik im Hintergrund, das Leben. Ja, diese Ruhe, dieser Frieden ist nicht selbstverständlich, ist kostbar, gerade in heutiger Zeit.

Ich bin hier, um von der feierlichen Preisverleihung des Stettiner Künstlerischen Preises (Nagroda Artystyczna Miasta Szczecin) zu erzählen, an der ich von einigen Tagen im Puppentheater Pleciuga teilgenommen habe.

Doch bevor ich zum Kern meiner Erzählung komme, eine Frage. Was bedeutet eigentlich pleciuga, wie könnte man das auf Deutsch sagen? Chat GPT gibt mir nur verwirrende Antworten, ich muss auf mein eigenes Gehirn zugreifen. Mir dämmert, es könnte jemand sein, der gern Geschichten erzählt und es beim Erzählen nicht so genau nimmt, dem Ganzen viel Farbe verpasst. Es bedeutet so was wie Klatschmaul, Schwatzkopf, Quasselkopf, Schnattergans, Labertasche, Plappererdas Synonym-Wörterbuch geizt nicht mit Ideen. Und dennoch treffen sie vielleicht nicht ganz den Kern. Plauderer und Fabulierer gefallen mir. Im Polnischen hat das Wort pleciuga allerdings etwas mit „spinnen“ (pleść) zu tun. Vielleicht bedeutet Pleciuga also einfach so was wie Spinner [2]?

Das Puppentheater, in dem Geschichten gesponnen werden, kenne ich seit meiner Kindheit. Wir sind hier einmal als Schulklasse gewesen, nur stand es damals an einem anderen Ort. Seit 2009 befindet sich das Pleciuga am Plac Teatralny, Theaterplatz 1 – eine schöne Adresse und leicht zu merken. Das Theater gibt es bereits seit dem Jahr 1953. Heute wird dort nicht nur Puppentheater gespielt, es gibt dort auch Vorstellungen für Jugendliche, Erwachsene, Workshops und Kulturevents. Schnell finde ich einen Parkplatz direkt vor dem Haus, es ist anders als in Berlin. Was mir noch auffällt und gefällt – die Veranstaltungen beginnen und enden in der Regel früher als in Berlin. Ganz praktisch.

Der Preis wird in drei Kategorien verliehen: für besondere künstlerische Leistungen, für ein Lebenswerk, und für innovative Popularisierung der Kultur. Ein Stettiner Orchester, eine Bildhauerin und eine Kunstgalerie für Kinder sind die diesjährigen Preisträger. Das Baltic Neopolis Orchestra verbindet Tradition und Moderne und hat gerade eine intensive Konzertsaison hinter sich, einschließlich einer Tournee durch Asien. Es gewinnt in der Kategorie „besondere künstlerische Leistung“. Die Bildhauerin Anna Paszkiewicz-Sawicka, die viele Skulpturen und Denkmäler für Stettin entworfen hat, wird in der Kategorie „Lebenswerk“ ausgezeichnet, und die Galerie der Stiftung „Las Sztuki“ (Wald der Kunst) erhält den Preis für die „Innovative Popularisierung der Kultur“. Die Galerie ist ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche kreativ an die Welt der Kunst herangeführt werden.

Zusätzlich, und das finde ich auch nicht schlecht, wird der Titel des Kulturmäzens verliehen – an Personen oder Unternehmen, die künstlerische Aktivitäten finanziell unterstützen. In diesem Jahr geht der Titel des Kulturmäzens an das Stettiner Unternehmen Sanprobi, das sich auf die Produktion von Probiotika spezialisiert hat.

Auf der Gala sind der Präsident (Oberbürgermeister) Piotr Krzystek und einer seiner Vizepräsidenten, Marcin Biskupski, anwesend. Es werden kurze feierliche Laudationes von Jury-Mitgliedern gehalten, aber langweilig wird es nicht, denn all das wird von Live-Musik von Stettiner Musikern temperamentvoll untermalt. Zur Untermalung gehört auch die Aufführung von Fragmenten der Theater-Vorstellung Ballada Szczecińska, also„Stettiner Ballade“, in der Regie von Arkadiusz Buszko. Was ist eine Stettiner Ballade? Ich bekomme eine überraschende Antwort von der Künstlichen Intelligenz, aus der ich etwas lernen kann. „Stettiner Ballade“ sei eine Sammlung von Balladen, die von Carl Loewe vertont wurden. Hm, das ist zwar die falsche Fährte, aber so weiß ich wenigstens, dass Johann Carl Gottfried Loewe (1976-1869), der als „pommerscher Balladenkönig“ und einer der wichtigsten Vertreter der romantischen Liedkunst gelten soll, 46 Jahre seines Lebens in Stettin lebte, wo er sich u. a. als Kantor und Organist an der Jakobi-Kirche betätigte sowie den Pommerschen Chorverband gründete. Interessant!

Aber mit Ballada szczecińska ist hier im Theater Pleciuga nicht die romantische Gattung der Ballade gemeint. Es geht um eine urbane Gattung – um die mündlich weitergegebenen, Geschichten „der einfachen Leute“ über die Stadt. Die Vorstellung, die seit einigen Jahren auf dem Programm des Theaters steht, erinnert stellenweise an ein Musical. Mit einem Hang zur Groteske und tragikomischen Wendungen werden hier u. a. die ersten Bewohner des polnischen Stettins karikaturhaft, aber liebevoll dargestellt und Stettiner Legenden zum Besten gegeben, ob es um die brutal untergedrückten Proteste der Arbeiter (in erster Linie der Werftarbeiter) von 1970 oder den Brand des „Kaskada“ (Kaskade) geht. Viele kennen „Kaskada“ nur als ein modernes Einkaufzentrum. Aber in den 60er und 70er Jahren war es eins der größten und modernsten Unterhaltungslokale in der Volksrepublik Polen und Zentrum des Stettiner Nachtlebens. Den tragischen Brand, bei dem viele Menschen ums Leben gekommen sind, habe ich aus dem Fenster der Straßenbahn sehen können, als ich am Morgen des 27. April 1981 zur Schule fuhr. [3]

Die Stadt-Ballade jedenfalls besingt die Identität der Stadt, auch die Kulinarische. Hat denn Stettin kulinarisch wirklich etwas zu bieten? Aber natürlich, auch wenn die beiden „Spezialitäten“ wahrscheinlich nichts für Feinschmecker sind. Und dennoch wurden sie offiziell als traditionelle Gerichte Stettins anerkannt, dürfen also nicht in der Stadtballade fehlen. Und beide beginnen mit „P“. Meine Damen und Herren, hier sind … – Paprykarz Szczeciński (Stettiner Paprika-Aufstrich) und Pasztecik Szczeciński (Stettiner Pastetchen)! Paprykarz szczeciński ist eigentlich (ja, leider!) bloß eine Fischkonserve. Außer aus Fisch besteht sie noch aus Reis, Zwiebeln, Tomatenmark und Pflanzenöl, dem Namen nach zu urteilen, wahrscheinlich auch aus Paprika. Der Aufstrich hat sogar bereits ein eigenes Denkmal in Stettin, und zwar auf der Lastadie (Łasztownia), der Oderinsel gegenüber der Altstadt.

Wer genießt aber noch größeren Kultstatus in Stettin, auch ohne Denkmal? Natürlich die gute alte Pasztecik Szczeciński, ein kulinarisches Wahrzeichen der Stadt, ein Pionier auf dem Stettiner Fastfood Markt, wie das Internetportal sedina.pl zu verlauten weiß. Es handelt sich dabei um ein frittiertes Hefeteiggebäck in krokettenartiger Form mit verschiedenen Füllungen (Fleisch und Sauerkraut, Käse und Champignons). In den Zeiten des Fleisch-Mangels gab es auch eine Eierfüllung. Dazu trinkt man Barszcz czerwony – klare, würzige Rote-Bete-Brühe.

Am besten ist aber die Geschichte der Maschine, die diese Pasteten in großen Mengen herstellt und reihenweise „ausspuckt“, was mich als Kind faszinierte. Es ist ein sowjetisches Küchengerät – ein Erbe der sowjetischen Armee. Nach dem Abzug eines Teils der Sowjet-Armee blieben die Gerätschaften in Stettin und jemand kam auf die Idee, die Produktion fortzusetzen. Und so wurde 1969 die erste Paszteciki-Bar in Stettin eröffnet – an der Aleja Wojska Polskiego (Allee der Polnischen Armee), heute Hausnummer 46. [4]

Nach der Gala gibt es im Foyer des Theaters ein feines Buffet. Von den deftigen Pasteten und proletarischen Fischkonserven keine Spur. Es gibt spannende Gespräche mit Menschen aus der Kulturbranche. Aber schnell ist auch wieder Schluss, es wird nicht lange gefackelt, das Tempo des Lebens ist hoch.

Nun bin ich fertig mit meinem Bericht. Sitze immer noch im Café, aber dunkel wird es nicht, die Abende sind ewig lang. Bevor ich diese gemütlichen Räumlichkeiten verlasse, studiere ich noch kurz eine zusätzliche Menü-Karte mit den speziellen Stettiner Tees – es gibt einen „Matrosen-Tee“, einen „Floating-Garden-Tee“, einen „Stettiner-Magnolien-Tee“ und einen „Stettiner-Boulevards-Tee“. Der letzte verführt mit Schokoladen-Stückchen aus der Gryf-Fabrik. Der Deutsche bezahlt by card, kauft keinen Tee für zu Hause und geht. Ich kaufe einen schicken Tee-Untersetzer, vielleicht kann ich ihn ja jemandem einmal schenken. Draußen bleibe ich kurz stehen und schaue mich noch einmal um. Es gibt hier auch andere Lokale, u. a. das Restaurant Towarzyska – von außen sieht es schick aus. Es gibt auch ein kleines Theater – Teatr Mały, dazu ebenfalls ein Restaurant. Auf den Bänken sitzen, trotz eher unfreundlichen Wetters, ein paar junge Straßenmusiker und singen, erzählen ihre Geschichten. Vielleicht sind es die zukünftigen Kandidaten und Kandidatinnen für den Künstlerischen Preis von Stettin, vielleicht aber auch nicht. Hauptsache, sie spielen, sie spinnen


[1] Bogislaw X., der Große (1454-1523) war ein Herzog von Pommern aus dem Greifenhaus. Unter seiner Regierung war seit 1478 ganz Pommern wieder unter einem Herrscher vereint. Er starb in Stettin. 

[2] Übrigens ist pleciuga, wie auch z. B. osoba (Person) eins der Wörter im Polnischen, die die weibliche grammatische Form haben, aber auch männliche Wesen mitmeinen (und nicht gegendert werden).

[3] Lyzeum Nr. 2, Mieszko-I-Str., Nähe der Haken-Terrasse.

[4] Ursprünglich befand sie sich gegenüber vom Kino „Kosmos“. Die zweite Kult-Bar befindet sich in der Kardynała-Wyszyńskiego-Str. 10 (Kardinal-Wyszynski-Str. 10).

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert